Die Anonymen dominieren die Lokalpolitik
Stuttgart-Wangen/Sillenbuch/Hedelfingen … Im Bezirksbeirat Wangen sitzen 63 Prozent Anonyme. In Sillenbuch sind es 43 Prozent. Und in Hedelfingen 41 Prozent. Keine Partei konnte bei der Kommunalwahl 2024 auch nur annähernd so viele Prozente sammeln. Was steckt dahinter?
Die genannten Zahlen beziehen sich auf die Veröffentlichungen auf der städtischen Webseite stuttgart.de. Seit Herbst des vergangenen Jahres verwendet die Stadt Stuttgart dafür den Sitzungsdienst ALLRIS®. Das Programm ist eine IT-Speziallösung für öffentliche Verwaltungen. Die Bürger bemerken davon wenig. Es sei denn, sie möchten sich auf der Internetseite der Stadt über Gremiensitzungen, Beschlussvorlagen oder eben auch über Mitglieder ihres örtlichen Bezirksbeirats informieren. Zum Beispiel, weil sie mit örtlichen Lokalpolitikern Kontakt aufnehmen wollen, um eine Frage zu stellen oder ein Anliegen zu besprechen.
Neuer Sitzungsdienst nicht benutzerfreundlich genug?
Das geht aber nur, wenn die potentiellen Ansprechpartner und deren Kontaktdaten auffindbar sind. Und daran krankt es. Dass so viele Bezirksbeiräte den Namen „Anonym” tragen, liegt aber wohl keineswegs an dem Bestreben der Politiker, nicht behelligt zu werden. Wobei es auch dies geben mag. Ein Problem könnte aber wohl eher die Tatsache sein, dass selbst geschulte Bezirksbeiräte mit ALLRIS® immer noch nicht gut zurechtkommen.
Als Wangens Bezirksvorsteher Jakob Bubenheimer in der Januarsitzung seines Bezirksbeirats nochmal einen Termin für eine Onlineschulung anbot, meldete sich sogleich Bezirksbeirätin Ingrid Kreis zu Wort und beklagte Anwendungsprobleme im Umgang mit ALLRIS®. Offenbar, so die im Gremium geteilte Vermutung, ist die Einrichtung von Stammdaten – die die Beiräte selber vorzunehmen haben – nicht ganz einfach. Oder es mangelt an Auswahlmöglichkeiten. So kritisierte Bezirksbeirat Jonathan Berg, dass man nur seine Telefonnummer, nicht jedoch seine Mailadresse für Kontaktaufnahmen eingeben könne.
Sogar ein Bezirksvorsteher ist „Anonym”
Die hohen Anteile Anonymer in den Bezirksbeiräten sind jedenfalls kein Spezifikum des WILIH-Landes. Schaut man auf stuttgart.de die Listen der Beiräte durch, stellt man fest: Dieses Phänomen durchzieht die gesamte Landeshauptstadt.
Die drei Bezirksbeiräte im WILIH-Land gehören dabei nicht mal zur Spitzengruppe in Stuttgart. So weist der Bezirksbeirat Birkach 90 Prozent Anonyme auf. In Münster sind es 79 Prozent, in Plieningen 76 Prozent, in Botnang 73 Prozent. Nur in zwei Stadtbezirksparlamenten der Landeshauptstadt sitzt weniger als ein Viertel Anonyme – in Stuttgart-Ost (23 Prozent) und in Stuttgart-Mitte (22 Prozent). Auch noch eine stattliche Anzahl. Die hier wiedergegebenen Zahlen berücksichtigen jeweils alle Bezirksbeiräte, also ordentliche und stellvertretende Mitglieder sowie beratende ohne Stimmrecht und sind gerundet, Stand 22. Januar 2025.
Fun Fact am Rande: In Vaihingen heißt sogar der Bezirksvorsteher „Anonym”. Über ihn als hauptamtlichen Vorsitzenden des örtlichen Bezirksbeirates erfährt der interessierte Bürger lediglich, dass er der CDU angehört und dem Gremium seit Juli 2024. Für Neugierige: „Anonym” ist ein Pseudonym. Offiziell heißt er Marcel Wolf.
„Frau ja” und „Herr öffentlich”
Mitunter treibt ein – dann wohl nicht ganz unfreiwilliges – Streben nach Anonymität seltsame Blüten. So sitzt im Cannstatter Bezirksbeirat laut ALLRIS® für Die Linke eine „Frau ja”. Die AfD hat im Stadtbezirk Münster einen Sitz mit „Herrn öffentlich” besetzt. Dessen Parteikollegin „Uschi” verweigert den Bürgern im Stadtbezirk Mühlhausen ihren Nachnamen. Ähnlich „Joachim K.”, der für die Grünen als Stellvertreter im Bezirksbeirat Möhringen sitzt. Oder dessen Parteifrend „Herr Nick” im Stuttgarter Norden. Die Grüne „Frau Schwerdtfeger” im Bezirksbeirat Ost hat zwar keinen Vornamen, Insider dürften den anhand ihres Spiegelselfies aber wohl herleiten können.
Ob gewollt oder nicht: Über sieben Monate nach der Kommunalwahl hat die Liste der Stuttgarter Bezirksbeiräte immer noch den Charakter eines Suchspiels. Anonyme Bezirksbeiräte taugen als Ansprechpartner für Bürger aber gar nichts. In dieser Form hat die ALLRIS®-Übersicht keinen nennenswerten Informationsnutzen. Eine Nachbesserung ist dringend vonnöten, wenn dieser Onlinedienst als Bürgerservice ernst genommen werden will.
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