Von den Neckarauen zum Hafen – eine erste Geschichte
Lebendige Ortsgeschichte (Folge 26). Historisches aus und über Hedelfingen – unterhaltsam erklärt von Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer … Über Hedelfingen gibt es viel zu erzählen. Besonders gut und gerne tun dies der ehemalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und Hedelfingens Ortshistoriker Michael Wießmeyer. Seit Jahren begeistern die beiden Hedelfingen-Fans bei Vorträgen und Führungen ein stetig wachsendes Publikum mit ihren Geschichten über die Geschichte des vor gut hundert Jahren von Stuttgart eingemeindeten Neckarvororts. WILIH veröffentlicht hier eine Serie mit vielen interessanten Blicken auf die Historie Hedelfingens. In loser Folge wollen die Geschichten-über-Geschichte-Erzähler Seiler und Wießmeyer an dieser Stelle Lust auf Hedelfingen machen.
Thema dieser Folge: Von den Neckarauen zum Hafen – eine erste Geschichte
Wir wollen eigentlich von den lieblichen Neckarauen rund um Hedelfingen schreiben. Doch Anfang Juni 2024 stehen wir ganz unter dem Eindruck der gewaltigen Wassermassen, die den Neckar hinunterrauschen. Nichts ist lieblich, nichts lädt zum Spaziergang durch die Wiesen und Auen ein, denn es regnet wie aus Eimern ausgegossen. Und gäbe es den kanalisierten Neckar nicht mit seinen hohen Kaimauern und Befestigungsanlagen, wäre das Neckartal überflutet wie früher.
Früher floss der Neckar von Esslingen kommend in seinem natürlichen Flussbett vorbei an der Spinnerei im Brühl – heute Mercedes-Fabrik gegenüber dem Neckarcenter – hin zum Palmenwald – heute das Waldstück zwischen Neckarcenter und Wertstoffhof Einöd. Der Fluss bog dann ab in Richtung Obertürkheim, vorbei an der Maschinenfabrik Esslingen – heute ebenfalls Mercedes-Gelände – entlang der Bahnlinie nach Untertürkheim. Vor dem Lindenschulviertel knickte der Neckar nach links ab Richtung Wangen, um unter der Untertürkheimer Brücke hindurch zu fließen und nach Bad Cannstatt seinen Lauf zu nehmen.
Durch diesen Neckarlauf hatte die Hedelfinger Bevölkerung Grundstücke auf der gesamten Hedelfinger Gemarkung in ebener Lage mit fruchtbarem Ackerland. Dies war ein glücklicher Umstand, denn hier gediehen Feldfrüchte aller Art, und Obstbäume brachten reichen Ertrag. Das Neckarschwemmland eignete sich auch zur Ansiedlung von Gärtnereien, die Salat und Gemüse anbauten und alles auf dem Markt in Stuttgart zum Verkauf anboten.
Sonntags war es üblich, hübsch herausgeputzt, durch die Neckarauen, sprich durch die Wiesen, Felder sowie Gemüse- und Obstanlagen in Richtung Obertürkheim, Untertürkheim und Wangen zu spazieren. Auch umgekehrt wurden diese Spaziergänge gerne nach Hedelfingen unternommen, um unterwegs oder auch hier im Ort in einer der rund 21 Wirtschaften einzukehren. Damals war es so, dass höchstens etwas getrunken wurde, denn das Mitgebrachte durfte im Gasthaus verzehrt werden. Most und Wein gab es zu günstigen Preisen.
In heißen Sommern war es ein großes Vergnügen, sich im Neckarbad auf Höhe des Obertürkheimer Bahnhofes abzukühlen. Dieses städtische Freibad kostete natürlich Eintritt. Wer sich diesen Eintritt nicht leisten konnte, badete oberhalb oder unterhalb des Freibades im Neckar. Mensch und Tier liebten diese Erfrischung. Vereinzelt wurden Reiter beobachtet, die hoch zu Ross in den Neckar ritten – um dann festzustellen, dass das Wasser gerade mal bis zur Hüfte reichte. Sehr gerne wurde auch in der Nähe der Esslinger Maschinenfabrik gebadet. Dort wurde das noch warme Kühlwasser der Gießerei in den Neckar geleitet. Die Jugendlichen freuten sich sehr, dass das Wasser an dieser Stelle nicht so kalt war.
Im Winter zeigten sich die Neckarauen von ihrer rauhen Seite. Vor knapp einem Jahrhundert waren die Hedelfinger harte Winter noch gewöhnt. Der Schnee lag länger, auch mal von Advent bis Aschermittwoch. Dennoch hat der Wintereinbruch von 1928/29 mit seiner besonderen Härte Geschichte geschrieben. Die Hedelfinger mussten Temperaturen unter minus zehn Grad ertragen. Kein Wunder, dass der Neckar damals komplett zugefroren war. Damit wurde der Fluss auch zum Spielfeld und zur Schlittschuhbahn, sogar ein Auto ist auf dem Eis gefahren. Gleichzeitig bestand Gefahr, dass Brückenpfeiler durch Eisbrocken beschädigt werden, z.B. an der Untertürkheimer Neckarbrücke. Damals gab es noch den Beruf der Flößer, die versuchten, mit Muskelkraft das Eis zu brechen. Später wurde Muskelkraft durch die Motoren der Eisbrecher abgelöst.*
Festzustellen ist, dass sich um das attraktive Hedelfingen und die in ebenem Gelände liegenden Neckarauen die Freie Reichsstadt Esslingen und die Stadt Stuttgart bemühten. Die Zeit schien 1918 für eine Eingemeindung günstig. Die Gemeinde Hedelfingen hatte nämlich attraktive Grundstücke im Neckartal in ihrem Besitz. Prima für Esslingen, um damit sein Gebiet um Mettingen und im Brühl zu ergänzen. Stuttgart wiederum konnte die Grundstücke gut für den geplanten Neckarkanal und den Neckarhafen gebrauchen sowie für ein geplantes Gewerbegebiet.
Die im damaligen Flurstücksplan gelb markierten Grundstücke waren im Besitz der Gemeinde Hedelfingen, und diese Grundstücke entlang des Neckars weckten Begehrlichkeiten. Der mit den Verhandlungen von Stuttgart beauftragte Rechtsrat Kopp und Oberbürgermeister Lautenschlager verhandelten mit dem Amtsverweser Walser von Hedelfingen, denn Hedelfingen hatte zu dieser Zeit keinen Bürgermeister. Auch der Oberbürgermeister von Esslingen trat als Interessent auf. Beide Oberbürgermeister verhandelten sogar auch unter vier Augen. Letztendlich wurde die Tendenz der Hedelfinger Bevölkerung erkannt, dass sie lieber zu Stuttgart gehen wollten als nach Esslingen.
Die steigende Einwohnerzahl in Hedelfingen – eine Folge der zum 1. April 1922 vollzogenen Eingemeindung zu Stuttgart – legte den Grundstein dafür, dass die Tage der Neckarauen gezählt waren. Die zunehmende Industrialisierung, der Wohnungsbau für die arbeitende Bevölkerung und der zunehmende Verkehr durch den Ort veränderten das Gesicht des Neckartales. Erkennbar war dies an den Planungen für den Ausbau des Neckars für die Schifffahrt von Heilbronn bis Stuttgart. Ein Hafen Stuttgart wurde auf den Wiesen, Feldern und Gärtnereiflächen geplant. Wagemutige Pläne für eine Verbindung für die Schifffahrt vom Neckar über die Schwäbische Alb mittels Schiffshebewerken bis zur Donau machten die Runde. Eine Schnellstraße von Esslingen nach Stuttgart sollte die Ortsdurchfahrten links und rechts des Neckars entlasten. Die heutige Bundesstraße 10 wurde als vierspurige Straße für 10.000 Kraftfahrzeuge geplant. So nach und nach wurde klar, dass sich das Neckartal grundlegend verändern würde.
*Quelle: Untertürkheimer Zeitung
Das Foto oben zeigt den vereisten Neckar im harten Winter 1928/29.
WILIH dankt Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer für diese Geschichte. Die historischen Fotos und Dokumente stammen aus dem Fundus des Alten Hauses Hedelfingen.
Nächstes Thema dieser Serie: Von den Neckarauen zum Hafen – zweite Geschichte
Den wöchentlichen WILIH-Newsletter kostenlos abonnieren und immer informiert sein! Einfach hier klicken und gleich anmelden, dann bekommen Sie einmal wöchentlich die Themen der Woche frei Haus! Abbestellung jederzeit möglich!