Land unter – Hochwasser-Katastrophe vor 110 Jahren

Lebendige Ortsgeschichte (Folge 25). Historisches aus und über Hedelfingen – unterhaltsam erklärt von Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer … Über Hedelfingen gibt es viel zu erzählen. Besonders gut und gerne tun dies der ehemalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und Hedelfingens Ortshistoriker Michael Wießmeyer. Seit Jahren begeistern die beiden Hedelfingen-Fans bei Vorträgen und Führungen ein stetig wachsendes Publikum mit ihren Geschichten über die Geschichte des vor gut hundert Jahren von Stuttgart eingemeindeten Neckarvororts. WILIH veröffentlicht hier eine Serie mit vielen interessanten Blicken auf die Historie Hedelfingens. In loser Folge wollen die Geschichten-über-Geschichte-Erzähler Seiler und Wießmeyer an dieser Stelle Lust auf Hedelfingen machen.

Thema dieser Folge: Hochwasser-Katastrophe vor 110 Jahren – Land unter in Hedelfingen und Rohracker

Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer beim Stöbern in historischen Fotos
Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer beim Stöbern in historischen Dokumenten

Der 14. Juni 1914 war ein Sonntag. Man war in der Kirche. Pfarrer Paul Veil war ein fleißiger Mann. Ihm haben wir die Ortsbeschreibung von 1914 zu verdanken. „2.911 Seelen lebten in Hedelfingen, 2.780 Evangelische, 130 Katholische (meist Italiener, die in der Dampfziegelei arbeiten oder im Straßenbau) und 1 Religionsloser.“

Am Nachmittag fiel in Hedelfingen Regen. Es waren keine ungewöhnlichen Mengen – und doch: Um 18 Uhr trat der Bach über sein Bett, und innerhalb einer Stunde war der alte Ortskern völlig unter Wasser. Auf den Fildern waren schwere Wolkenbrüche niedergegangen, und der Dürrbach war voll von Wasser und Geröll und Erdmassen. Die Fluten rissen eine Brücke mit und setzen Häuser meterhoch unter Wasser. Die Hedelfinger hatten alle Hände voll zu tun. Aus den überfluteten Ställen mussten Kühe und Pferde gerettet werden. Viele Tiere, darunter Schweine, Ziegen und Hasen, waren von den Fluten mitgerissen worden und ertranken. In vielen Häusern mussten die Möbel rausgeschafft werden; es war alles total verschlammt. Manche der Älteren mussten aus dem Haus getragen und in Sicherheit gebracht werden, genau wie die Babys und Kleinkinder.

Haus am Ährenweg 6 mit Hochwassermarkt 1914
So hoch stand 1914 das Hochwasser am Ährenweg 6

Die Hedelfinger Feuerwehr rief die Stuttgarter Hauptfeuerwache zur Hilfe. „Im wilden Galopp mit schaumbedeckten Pferden eilte diese nach Hedelfingen”, stand in der Schwäbischen Chronik. Selbst die moderne Automobildampfspritze wurde alarmiert und nach Hedelfingen geschickt. Die Berufsfeuerwehr Stuttgart musste sich durch 70 cm hohe Wassermassen durchkämpfen. Dank ihres modernen 70 PS-Motors gelang ihr das.

Viele der Feuerwehren aus der Nachbarschaft, wie Obertürkheim, Wangen, Uhlbach und Untertürkheim, eilten zur Hilfe. Die Feuerwehr von Rohracker war mit kleinen Schäden im eigenen Ort beschäftigt.

Es gab noch kein Radio und kein Internet, aber rasend schnell verbreiteten sich die Gerüchte. So hieß es: Mehrere Häuser seien weggeschwemmt worden, es seien zwei Kinder ertrunken. Die Schreckensnachrichten wurden immer heftiger, jeder in den Nachbarorten wusste noch mehr schreckliche Nachrichten. Es waren aber Halbwahrheiten, Unwahrheiten und die Lust an der Katastrophe.

Viele Betriebe waren betroffen: In einer Bäckerei wurde die gesamte Backstube unter Wasser gesetzt. Backkörbe, Handwerkszeug, fertige und halbfertige Brotlaibe schwammen in der Backstube und gerieten auch nach außerhalb. Am Ährenweg waren die tiefer liegenden Häuser über einen Meter überschwemmt. Selbst die Straßenbahn war betroffen. Oberhalb der Fabrik Kriegeskorte, die ebenfalls unter Wasser stand, wurden die Gleise beschädigt. Der aufgeworfene Damm wurde vollständig unterspült. Die Schienen wurden zum Teil freigespült und waren komplett offen. Die Strecke von der Endstation Hedelfingen bis zur Firma Kriegeskorte konnte nicht mehr befahren werden. Es dauerte Wochen, bis alles wieder instandgesetzt war. 

Aufräumen an der heutigen Rohrackerstraße 1914
Aufräumarbeiten an der heutigen Rohrackerstraße nach dem 1914er Hochwasser

Am 15. Juni waren Aufräumarbeiten angesagt. Unzählige Tonnen von Geröll, Holz und Unrat mussten beiseite geschafft werden. Selbst am Rathaus im Feuerwehrmagazin stand das Wasser. Holzbänke schwammen aus den offenen Toren der Feuerwehr hinaus.

Die Obertürkheimer Zeitung schreibt: „Von allen Seiten her strömt eine wahre Völkerwanderung Neugieriger. Sie waten durch knöcheltiefen Schlamm, der die Straßen bedeckt. Es ist eine ungezählte Menschenmasse.” Sie sitzen in Wirtschaften, vespern und trinken und schauen der Bevölkerung und den Feuerwehren bei den Aufräumarbeiten zu. Katastrophentourismus ist also keine neue Erfindung. Selbst das hatten wir schon.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Am 16. Juni 1914 gab es einen weiteren verheerenden Wolkenbruch. Die eh schon vollen Bäche bekamen noch mal die gesamte Wucht und die Kraft des Wassers zu spüren. Jetzt kam es in Rohracker ebenfalls zu einer noch nie dagewesenen Katastrophe. Wieder strömten riesige Wassermassen von den Fildern und vom Frauenkopf ins Dürrbachtal. Es wurde diesmal noch schlimmer, Brücken in Rohracker wurden zerstört und Häuser überflutet. 

Die Schwäbische Chronik schreibt: „Rohracker 17. Juni 1914. Das Unwetter von gestern Mittag hat hier noch viel größeren Schaden angerichtet als letzten Sonntag; auch kam es diesmal überraschender. Die Einwohner mussten ihre Häuser fluchtartig verlassen. Diesmal kam das Wasser nicht nur von den Fildern, sondern vom Frauenkopf und von den örtlichen Wäldern von Stuttgart, von der Bopsergegend. Die Einwohner mußten mit Leitern aus den Häusern geholt werden. Sämtliches Geflügel, das in der Höhe des Baches untergebracht war, ist umgekommen. Die Feuerwehr von Rohracker mußte sofort zur Hilfeleistung aufgerufen werden. Sämtliche Brücken in Rohracker sind durch die reißenden Bäche weggeschwemmt worden. Der Schaden beträgt nach vorläufiger Schätzung etwa 50.000 Mark.“

In Hedelfingen wurden die Schäden durch das zweite Unwetter noch größer. Selbst die neue Eisenbetonbrücke, die auf die Bachstraße (heutige Rohrackerstraße) führte, wurde vollständig zerstört.

Auf dem Gebiet des heutigen Hafens befanden sich Felder, Äcker und Gärtnereien. Statt Gemüsekulturen war dort ein riesiger See. Das ganze Neckartal stand unter Wasser und konnte nur mit Booten befahren werden. Der geschätzte Schaden betrug 125.000 Mark.

Die zerstörte Eisenbetonbrücke wurde am 9. September öffentlich zum Wiederaufbau ausgeschrieben. Die Kosten des Neubaus wurden mit 7.180 Mark veranschlagt. Allein die Betonierungsarbeiten wurden mit 2.300 Mark veranschlagt, die Eisenbetonarbeiten mit 3.000 Mark. 

Man hat nach der Hochwasserkatastrophe verschiedene Maßnahmen ergriffen. Das Bachbett wurde vertieft und mit Steinplatten ausgelegt, damit das Wasser schneller abfließen konnte. 1919 wurde das neue Bachbett schnurgerade nach Obertürkheim ausgehoben. Man erhoffte sich einen schnelleren Ablauf des Wassers, um eine Wiederholung der Hochwasserkatastrophe von 1914 in Zukunft zu verhindern.

Das Foto oben zeigt die Überschwemmung der heutigen Rohrackerstraße.

WILIH dankt Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer für diese Geschichte. Die historischen Fotos und Dokumente stammen aus dem Fundus des Alten Hauses Hedelfingen.

Nächstes Thema dieser Serie: Von den Neckarauen zum Hafen – mehrere Geschichten.


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