Barrierefreiheit bei der Stadtbahn: Manchmal kommt es auf jeden Zentimeter an

Ostfildern … Beim Thema Barrierefreiheit kennt Diplom-Ingenieur Peter Krauß von der Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) jedes Detail. Kürzlich referierte er im Stadthaus im Scharnhauser Park.

Das Gespräch fand auf Einladung des Forums Gesellschaft inklusiv und der Stadt Ostfildern statt. Fragen gab es etliche: Warum sind in Stuttgart keine Niederflur-Stadtbahnen unterwegs? Das liegt laut Krauß auch daran, dass es oft steil bergauf geht und die Antriebsleistung nicht ausreichen würde. Bei Stuttgarts Triebwagen beträgt die Bodenhöhe durchgängig einen Meter, die Bahnsteige sind aber oft nur 90 Zentimeter hoch. Das liegt an den Türen, die bei den älteren Triebwagen beim Öffnen über den Bahnsteig hinweggehen. Schwenkschiebetüren wie bei der neuesten Triebwagengeneration, denen der kleine Spalt reicht, waren damals noch nicht erfunden. Ein Höhenunterschied von zehn Zentimetern ist für manchen Rollstuhl schon zu viel.

Inzwischen baut die SSB 94 Zentimeter hohe Bahnsteige. Liegt das Gleis nicht im Schotter, sondern auf einer festen Fahrbahn, sind es sogar 95 Zentimeter. Ein wenig Reserve müsse sein, erläuterte Krauß, denn die Radreifen der Züge und die Schienen nutzen sich ab. Das Problem: Solange ein Bahnsteig intakt ist, bekommt die SSB kein Geld, um Bahnsteige zu erhöhen. Einen Vorteil hat die SSB: „Wir haben das Glück, dass alle Türen bei allen Triebwagen an der gleichen Stelle sind”, sagt Krauß. „Kein anderes Verkehrsunternehmen in Deutschland hat das geschafft.” So lässt sich auf den Bahnsteigen markieren, wo die Türen beim Halt sein werden.

Teils seien die Anforderungen total konträr, betonte Krauß. Für den Rollstuhlfahrer sind völlig ebene Flächen gut, aber dem Sehbehinderten mit Stock fehlt die Tastkante. Nötig ist für Krauß ein Dreiklang aus Infrastruktur, Fahrzeug und dem richtigen Hilfsmittel. Auch an letzterem könne Barrierefreiheit scheitern, etwa beim Wohnungsrollator draußen auf der Straße. Die rechtlichen Regelungen sind kompliziert und teils veraltet, die Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung (BOStrab) erlaubt bei Stadtbahnen bis zu 25 Zentimetern zwischen Tür und Bahnsteig. „Das haben wir nirgends gebaut”, sagte Krauß. Doch gerade in Kurven sei es schwierig, kleine Abstände zu erreichen. Manchmal fehlten Erbauern die Fachkenntnisse, etwa bei einer gelben Line auf dem Boden, bei der einem Sehbehinderten der Kontrast fehlt.

Seit mehr als 25 Jahren arbeitet die SSB mit dem Dachverband integratives Planen und Bauen (DIPB) zusammen. In ihm sind körperbehinderte genau so wie sehbehinderte Menschen vertreten. „Wir sprechen im Vorfeld die Planungen miteinander ab. Korrekturen auf Papier sind günstiger als später mit dem Boschhammer.” Mit dem DIPB werden vor Ort Praxistests von Anlagen und Fahrzeugen durchgeführt. Derzeit testet die SSB Fahrgastanzeigen, die nach einem Tastendruck vorgelesen werden. Bei den Bussen spricht sich Krauß für die mechanische Klappe aus: „Sie funktioniert auch bei Nieselregen.” Bei den Bushaltestellen ist noch viel zu tun, bis 2022 sollen sie laut Gesetz barrierefrei sein. Die SSB fährt 1.535 Haltestellen an, ein einziger Umbau kostet ohne Leitungsverlegungen rund 25.000 Euro.

Aufmerksam nahm Krauß die Anregungen der rund 25 Zuhörer auf, auch zur Schranke im Bus, vorne beim Fahrer. Ein Blindenführhund ist darauf trainiert, einen Sehbehinderten um das Hindernis herumzuführen, was aber im Bus nicht geht. Beim neuen System, das mit einer App Linienbus und Smartphone vernetzt, ist Krauß vorsichtig: „Nicht jede Erfindung, die so toll angepriesen wird, setzt sich auch durch.” Derzeit werde das System in Kassel und Soest getestet, das will Krauß abwarten.

Quelle: Stadt Ostfildern.

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