Spurensucher und das Geheimnis der Schulglocke
Lebendige Ortsgeschichte (Folge 15). Historisches aus und über Hedelfingen – unterhaltsam erklärt von Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer … Über Hedelfingen gibt es viel zu erzählen. Besonders gut und gerne tun dies der ehemalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und Hedelfingens Ortshistoriker Michael Wießmeyer. Seit Jahren begeistern die beiden Hedelfingen-Fans bei Vorträgen und Führungen ein stetig wachsendes Publikum mit ihren Geschichten über die Geschichte des vor gut hundert Jahren von Stuttgart eingemeindeten Neckarvororts. WILIH veröffentlicht hier eine Serie mit vielen interessanten Blicken auf die Historie Hedelfingens. In loser Folge wollen die Geschichten-über-Geschichte-Erzähler Seiler und Wießmeyer an dieser Stelle Lust auf Hedelfingen machen.
Thema dieser Folge: Hedelfinger Spurensucher und das Geheimnis der Schulglocke
Das Schulhaus am Hedelfinger Platz ist ein stattliches Gebäude. Viele Hedelfingerinnen und Hedelfinger sind in diese Schule gegangen. Wer von ihnen heute das als Bürgerhaus genutzte Gebäude betritt, erinnert sich sofort an seine Schulzeit. So auch das Hedelfinger Urgestein Paul Barth, der sich noch gut an die frühere Zeit erinnern konnte und überzeugt davon war, dass es auch eine Schulglocke gab. Paul Barth hat beruflich Außergewöhnliches geleistet. Er war der Motor und Ideengeber für die erste Jugendverkehrsschule in Stuttgart, und das bereits 1953. Es war nicht nur in Stuttgart die erste Jugendverkehrsschule, sondern in ganz Deutschland. Er war auch in vielen Vereinen sein Leben lang tätig. So schrieb die SportKultur in seinen Nachruf: „… starb nach 79 Jahren Mitgliedschaft … als Spender stand er an oberster Stelle“.
Nun zum Geheimnis der Schulglocke: Alles begann an einem ganz gewöhnlichen Tag. Nun ja, nicht ganz gewöhnlich, es war der Tag der Hauptversammlung 2008 des Fördervereins „Altes Haus“. Der Zulauf war enorm; nicht weiter verwunderlich, denn das Rahmenprogramm war spannend und die Verpflegung reichlich.
Als alle gemütlich den Abend mit Brezeln und Wein ausklingen ließen, kamen Riccarda und Paul Barth, der 92-jährige rüstige und aktive Rentner, miteinander ins Gespräch: „Wissen Sie“, sinnierte der Pensionär, „früher, vor über 80 Jahren, da war ich noch Schüler, im schönen alten Schulhaus am Hedelfinger Platz. Riccarda witterte sogleich eine museumstaugliche Geschichte und setzte nach: „Haben Sie denn noch Bilder aus dieser Zeit?“
Es stellte sich heraus, dass Bilder von der alten Zeit existierten. Doch erinnerte er sich nicht mehr, ob damals eine Glocke oben am Dach in dem „Dachreiter“ über dem Haupteingang hing; er denke aber schon. „Wissen Sie“, meinte er weiter, „wenn Sie herausfinden, ob und was für eine Glocke damals da hing, stifte ich der Alten Schule eine neue. Sollte keine dort gewesen sein oder es kann nicht ermöglicht werden, bekommt das Alte Haus ersatzweise 5.000 Euro als Spende“.
Dies ließen sich Michael Wießmeyer, der Vereinsvorsitzende vom Alten Haus, welcher sich durch seine Ausdauer im Recherchieren zu historischen Fragen auszeichnet, sowie sein Vorstandsmitglied Dieter Bohnacker, der Schriftführer, der für jedes Abenteuer zu haben ist, und Riccarda Wießmeyer, damals jüngstes aktives Mitglied und stets abenteuerlustig, nicht zweimal sagen. Mir nichts, dir nichts, sammelten sie Informationen, alte Bilder wurden überprüft, ehemalige Schüler der Schule interviewt und alte Filme gesichtet. Doch sie kamen zu keinem eindeutigen Ergebnis.
Sie dachten sich: Es wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als hinaufzusteigen zu dem „Dachreiter“, um nachzusehen, ob es noch Vorrichtungen zur Befestigung einer Schulglocke gibt. Die drei Hedelfinger Spurensucher gaben nicht auf. Sie begaben sich zum damaligen Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und trugen ihr Anliegen vor: Sie müssten ins Alte Schulhaus und die Glockenhalterung baulich untersuchen. Seiler musste schmunzeln. Die Hedelfinger Museumsmitarbeiter waren so beharrlich! Er gab ihnen den Schlüssel für die Alte Schule, heute Bürgerhaus, und wünschte ihnen viel Glück.
Am nächsten Tag war es so weit. Dieter Bohnacker holte Michael und Riccarda Wießmeyer ab, um das Geheimnis zu lüften. Als sie nun an der Alten Schule ankamen, stießen sie auf Probleme. Wie kommt man an einen „Glockenturm“, in dessen Nähe kein Fenster ist, und dessen Dach durch Regen sehr rutschig ist? Gott sei Dank war Riccarda dabei. Sie analysierte die Situation und führte die zwei Männer zu einem Dachfenster in den zum Hinterhof liegenden Teil der Schule. „Hier gibt es eine Klappleiter“, sagte sie und wollte ihren Mitstreitern den Vortritt auf das Dach lassen. Doch die scheiterten an der modernen Technik, so dass doch Riccarda als Erste aufs Dach stieg.
Nun waren sie zwar auf dem Dach, im Regen, aber noch sehr weit weg vom „Glockenturm“. Doch kein Problem für Dieter Bohnacker. Er schwang sich wagemutig an den Dachflächen empor, um mit seiner Kamera beste Bilder zu machen. Als alle drei wieder sicher im Haus standen und die Fotos auswerteten, stellten sie enttäuscht fest, dass es wohl nie eine Glocke hoch oben über dem Haupteingang gab. Denn in dem „Glockenturm“ waren keinerlei Spuren einer Vorrichtung für eine Glocke feststellbar.
Diese Feststellungen musste man nun Paul Barth beibringen, der auf das Anbringen einer Schulglocke gehofft hatte. Er war tief erschüttert: Er höre sie noch genau, die Schulglocke. Doch draußen war sie sicher nicht aufgehängt. Seine Enttäuschung war groß, aber er spendete tatsächlich 5.000 Euro. Allerdings nicht dem Förderverein Altes Haus, sondern dem Förderverein Alte Kirche, der völlig überrascht und dankbar zu 4.000 Euro kam. Immerhin 1.000 Euro gab‘s fürs Alte Haus. Paul Barth hat es nie ganz überwunden, dass es die Glocke an diesem Ort niemals gab.
WILIH dankt Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer für diese Geschichte. Die historischen Fotos und Dokumente stammen aus dem Fundus des Alten Hauses Hedelfingen.
Nächstes Thema dieser Serie: Kirbe 1983 – Neubeginn mit einer Neuerung
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