Von den Neckarauen zum Hafen – dritte Geschichte
Lebendige Ortsgeschichte (Folge 28). Historisches aus und über Hedelfingen – unterhaltsam erklärt von Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer … Über Hedelfingen gibt es viel zu erzählen. Besonders gut und gerne tun dies der ehemalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und Hedelfingens Ortshistoriker Michael Wießmeyer. Seit Jahren begeistern die beiden Hedelfingen-Fans bei Vorträgen und Führungen ein stetig wachsendes Publikum mit ihren Geschichten über die Geschichte des vor gut hundert Jahren von Stuttgart eingemeindeten Neckarvororts. WILIH veröffentlicht hier eine Serie mit vielen interessanten Blicken auf die Historie Hedelfingens. In loser Folge wollen die Geschichten-über-Geschichte-Erzähler Seiler und Wießmeyer an dieser Stelle Lust auf Hedelfingen machen.
Thema dieser Folge: Von den Neckarauen zum Hafen – eine dritte Geschichte
In unserer zweiten Geschichte über den Bau der Bundesstraße 10 haben wir festgestellt, dass fast zeitgleich der Stuttgarter Neckarhafen gebaut und am 31. März 1958 eingeweiht wurde. Die „größte Einweihungsfeier der Nachkriegszeit in Groß-Stuttgart“, zu der die Eröffung des Stuttgarter Hafens werden sollte, wird da aber noch ein Weilchen warten müssen, denn zuerst müssen die Neckarauen zu einer Großbaustelle werden. Äcker, Wiesen, Gärtnereien, Wohnhäuser und Obstbaumwiesen müssen verschwinden. Die Hafenbecken werden ausgebaggert, Kaiwände betoniert, Böschungen angelegt, und Gleise der Hafenbahn werden verlegt. Eine gewaltige Aufgabe.
Wir schauen zurück ins Jahr 1929, als eine Ausschreibung für den Stuttgarter Hafen vorgenommen wurde. Als Grundlage für die Bemessung der Hafenanlagen wurde eine Umschlagmenge von zwei Millionen Tonnen im Jahr angegeben. Auf die Ausschreibung sind am 15. März 1929 fristgemäß 48 Entwürfe eingelaufen; 47 Verfasser haben die Hafenanlagen samt Zubehör in dem Gelände oberhalb des Wehrs bei Untertürkheim zwischen dem Neckar und den Vororten Wangen und Hedelfingen vorgeschlagen. Das aus 17 Mitgliedern zusammengesetzte Schiedsgericht hat nach zweitägiger Sitzung am 15. Mai 1929 dem Entwurf von Professor Paul Bonatz und Architekt F.E. Scholer aus Stuttgart den 1. Preis zuerkannt. Beide sind bekannte Architekten, die zum Beispiel den Hauptbahnhof erbaut haben.
Ein Mitglied des Schiedsgerichts war darüber erstaunt, dass keiner der Teilnehmer an dem Wettbewerb die Ausschaltung der drei für die Schifffahrt sehr ungünstigen Flußkrümmungen zwischen dem Brühl und dem Untertürkheimer Wehr vorgeschlagen hat, zumal die alte Neckarstrecke nur am linken Ufer und günstigstenfalls bis höchstens 300 Meter unterhalb der Obertürkheimer Straßenbrücke – das ist eine Länge von 1.200 Metern – für den Güterumschlag hätte in Betracht kommen können, weil am rechten Ufer die Eisenbahn liegt. In der Wangener Chronik ist weiter nachzulesen, dass – abweichend von den Vorschlägen – angeregt wurde, im Interesse eines möglichst übersichtlichen Betriebs der Schifffahrt im neuen Hafen, etwa 600 Meter oberhalb des Untertürkheimer Wehrs bis zum Brühl, d.h.auf einer Länge von rund 2,7 Kilometern, den alten Flusslauf aufzugeben und für den Neckar ein neues geradliniges Bett sowie zwischen diesem und dem bestehenden Neckar ein besonderes Hafenbecken (zugleich auch Schutzhafen bei Hochwasser und Eis) herzustellen. Hierbei kann das neue Flussbett in seiner ganzen Länge von etwa 2,6 Klilometern bis zum Wehr bzw. der Schleuse und Staustufe Obertürkheim oder auch nur auf eine noch näher festzusetzende Länge mit 80 bis 85 Meter Sohlenbreite als Flusshafen mit beiderseitigen Verladeufern verwendet werden.
Wir sehen, dass eigentlich alles viel kleiner geplant war, wie ein alter Lageplan von ca. 1935 zeigt und im vorstehenden Absatz beschrieben ist. Zukunftsweisend ist man von den Vorschlägen der (berühmten) Architekten abgewichen und ist auf den Plan mit drei Hafenbecken ausgewichen. Das ermöglichte den Weiterbau des Hafenbeckens 1 mit einer Verlegung des Neckars in dieses Hafenbecken als Bundeswasserstraße. Denn der Neckarkanal sollte später bis Plochingen verlängert werden. Ja, es gab sogar ganz tollkühne Pläne, die vorsahen, mittels Schiffshebewerken die Schwäbische Alb zu bezwingen und die Schiffe zur Donau zu führen. Damit hätte man vom Neckar bis zum Schwarzen Meer mit dem Schiff fahren können. Heute wissen wir, dass mit der Schifffahrt in Plochingen Schluss ist.
Am 11.8.1956 berichtete die Untertürkheimer Zeitung unter der Überschrift „Neckarflug über Stuttgarts größte Baustelle“: „Das drückt sich schon in den Kosten der Arbeiten aus, die sich am Neckar aneinanderreihen: Brückenbauten bei Obertürkheim etwa zwei Millionen Mark, Neckarhafen etwa 35 Millionen Mark, Schleuse Untertürkheim mindestens 10 Millionen Mark, Grossmarktanlage etwa 15 Millionen Mark, Cannstatter und Hofener Schleusen mit je weiteren 10 Millionen Mark. Unter dem Strich stehen demnach über 80 Millionen Mark, wobei die hohen Kosten, die der Neubau der Bundesstraße 10 am Neckar entlang mit den verschiedenen Brückenbauten verursachte, noch nicht einmal berücksichtigt waren.”
Am 22.2.1958 berichtet die Zeitung, dass sich die Wirtschaft den Hafen viel kosten lasse. Sie investiere mehr als 40 Millionen Mark. Der Aufbau ihrer Hafenanlagen dauere noch einige Monate. Dort, wo im künftigen Stuttgarter Neckarhafen das Becken 1 und der Sicherheitshafen eine Landspitze bildeten, werde am 31. März der große Einweihungsakt vor sich gehen. Noch sei das ganze riesige Hafengebiet von 100 Hektar Größe, das nach dem Vollausbau sogar 200 Hektar umfassen werde, eine einzige große Baustelle. Das reinste Tohuwabohu biete sich dem Auge, aus dem nur einigermaßen klug werden könne, wer die Planung kenne. Was die Stadt zu bauen hatte, Hafenbecken, Bahnanlagen, Brücken und Straßen, Versorgungs- und Entwässerungsleitungen, war bis auf die beiden Brücken über die künftige Bundesstraße 10 und die Straßenverbindungen mit dem Hedelfinger Platz und der Ulmer Straße bei Wangen fertig. Es sei festzustellen, dass nur rund zwei Jahre gebaut wurde. Was für ein Tempo zur damaligen Zeit!
Der Stuttgarter Hafen war als Umschlagplatz für Massengüter angelegt: Im Hafenbecken 1 Stückgut, aber auch Kohle, Kies und Sand, im Hafenbecken 2 nur Kohle, Kies und Sand, im Hafenbecken 3 Mineralölerzeugnisse aller Gefahrenklassen. Von der Einfahrt bei Mannheim bis zum Hafen Stuttgart haben die Schiffe 188 km und 23 Schleusen zu durchfahren. Der Höhenunterschied zwischen Mannheim und Stuttgart beträgt 135 m. Die Gesamtfläche des Hafens beträgt 122 Hektar, davon entfallen auf die Hafenbecken 34 Hektar, auf die Hafenbahnanlagen 25, auf Straßen und Parkplätze 12 und auf die Betriebsflächen 51 Hektar.
Die Kailängen im Hafen betragen 5.728 Meter, und die Breite des Hafenbeckens 1 liegt bei 74 bis 85 Metern, die Breite des Hafenbeckens 2 misst 70 Meter, die des Hafenbeckens 3 beträgt 60 Meter. Die garantierte Wassertiefe in allen drei Hafenbecken liegt bei 2,5 Metern. In der als Sicherheitshafen ausgebildeten Einfahrt in das Hafenbecken 2 betrug die Tiefe früher 5,0 Meter.
Im ersten Bauabschnitt beliefen sich die Gesamtkostensumme auf 34.100.000 DM sowie die Grunderwerbskosten auf 9.457.000 DM. Zuerst war nur die Brücke über die B 10 in Hedelfingen gebaut, dann fuhr man auf einem Damm weiter bis zur Neckarbrücke vor Obertürkheim. Firmen der ersten Stunde sind RHENUS, RHENANIA und DAMCO – um nur einige zu nennen. Diese hatten ihren Hauptsitz in Häfen am Rhein und expandierten hier in Stuttgart.
Noch ein paar Zahlen wollen wir nennen, die Auskunft über die Entwicklung des Hafens geben. Umschlag 1958/59: 2.432.000 Tonnen mit 4.482 Schiffen; 1959/60: 3.254.000 Tonnen mit 6.666 Schiffen; 1960/61: 4.314.000 Tonnen mit 7.583 Schiffen. Im Jahr 2023 betrug der Umschlag 4.166.000 Tonnen, davon in Containern 2.273.961 Tonnen. Diese Gütermengen sind mit 699 Schiffen und 59.580 Eisenbahnwagon in den Hafen gekommen bzw. von dort abgegangen.
Im Jahr 1958 berichtet die Tageszeitung humorvoll: „Au Mama guck, do kommt a Schiff!“ Freudig ruft es der kleine Bub, als unter der Gaisburger Brücke hindurch ein schwerer Lastkahn Richtung Stuttgarter Neckarhafen zieht. Das Bild ist schon alltäglich, und wer Zeit und Muße hat, eine Weile den Beobachter von der Brücke aus zu spielen, dem wird bestimmt nie langweilig. Denn im Stuttgarter Hafen ist ein stetiges „Kommen und Gehen“ der Schiffe.
1958 entsteht ein Großtanklager für 32 Millionen Liter in 21 Tanks. Ein Jahr und sieben Monate nach dem Baubeginn auf 21.700 m² Fläche ist es entstanden. Die Anlage kann auf eine Kapazität von 50 Millionen Litern und noch mehr erweitert werden, falls es sich als nötig erweisen sollte. Der Feuerschutz ist von besonderer Wichtigkeit. Ihm dienen eine Schaumlöschanlage und eine Berieselungsanlage. Vom Stuttgarter Ölhafen aus wird nicht nur die engere Umgebung, sondern auch der ostbayerische und wohl bald auch der südbayerische Raum versorgt. Mit rund 50 Mann Belegschaft wird hier ein gewaltiger Umschlag von Mineralölen vom Wasser auf die Schiene oder Straße bewerkstelligt. 2023 lag der Umschlag bei 823.601 Tonnen.
Das Stuttgarter Neckartal hat sich zwischen 1954 und 1964 stark verändert und Spuren in der Landschaft hinterlassen. Der Verfasser eines damaligen Zeitungsartikels schreibt, dass die Industrielandschaft einem Vorwärtsstürmen gleichkommt. Bilder aus dieser Zeit sind der Beweis, dass 1954 das Neckartal noch wirklich ein Tal war, während es jetzt eine Industrielandschaft ist. Das ganze Bild ist ein Gedränge von Hafenbetrieben, und schon heute weiß man: Der Hafen ist zu klein. Die Zeit steht niemals still, wie wird es in zehn Jahren sein? Was sind zehn Jahre schon? Ein Handumdrehen – und eine kleine Ewigkeit.
Im Jahr 1981 widmet sich ein Zeitungsartikel den Auswirkungen des Neckarhafens. Diese zentrale Güterumschlagstelle wurde ohne die dazu erforderlichen Straßen gebaut. Millionen Tonnen von Gütern werden Jahr für Jahr durch Wohnstraßen gefahren. Anfänglich über die damals noch idyllische Rohrackerstraße, entlang dem offenen Bachbett, dann hinüber über die Dürrbachbrücke durch zwei scharfe enge Kurven auf die Heumadener Straße. Hausecken wurden „mitgenommen“ und Wände eingedrückt. Schließlich beschloss der Gemeinderat, den Dürrbach einzudolen, eine Reihe von Wohngebäuden unter Androhung von Enteignungsverfahren abzureißen, den Straßenverlauf zu begradigen und eine vierspurige Straße zu bauen. Damit war die folgenschwerste Entscheidung für die Entwicklung von Hedelfingen in die heutigen Verhältnisse hinein getroffen.
Damals fragte man sich: Welche Maßnahmen sind erforderlich? Der überörtliche Durchgangsverkehr muss aus den Wohnstraßen hinaus! Die Verwirklichung der Südumfahrung Hedelfingen muss konsequent weiterverfolgt werden! Bezirksvorsteher, Bezirksbeirat, Bürgerinitiative Südumfahrung Hedelfingen und die Aktionsgemeinschaft Südumfahrung Hedelfingen haben keine Zeit und Mühen gescheut, sich für den frühestmöglichen Bau der Umgehungsstraße einzusetzen. Die Hedelfinger lassen nicht locker!
Dennoch ist festzustellen, dass von 1981 bis heute nichts Grundsätzliches passiert ist. Die Rohrackerstraße wurde auf zwei Fahrstreifen zurückgebaut. Dies und der Kreisverkehr am Dürrbachplatz haben die früher hektische Fahrweise auf ein „durch den Ort Rollen“ reduziert. Die Verkehrsmenge ist aber im Wesentlichen gleich hoch geblieben. Es konnte nicht verhindert werden, dass der Kombi-Bahnhof in Betrieb ging und Hafenbahnstraße/Bruckwiesenweg sowie Insel-Benz-Wunder-Dreieck vollständig ausgebaut wurden. Der Vollanschluss Otto-Konz-Brücken zur B 10 ist bis heute nicht realisiert. Der Vollanschluss Hafenbahnstraße-B 10 im Bereich Neckarschleuse Obertürkheim ist zwar fertiggestellt, aber die Südumfahrung fehlt bis heute und ist in weite Ferne gerückt.
Der Hafen im steten Wandel: Mit drei Millionen Tonnen Umschlag im Jahr hat der Hafen begonnen. Heute sind es 4,2 Millionen Tonnen. Massengüter wie Kohle, Sand und Kies sind rückläufig. Dafür nimmt der Containerumschlag stetig zu. Künftig wird der komplette Ostkai hierfür in Anspruch genommen. Ein Container ist individuell nutzbar und mit Schiff, Bahn oder LKW zu transportieren. DP World ist die entsprechende Partnerfirma im Hafen. Sie verfügt mittlerweile über eine eigene Schiffsflotte. Die Hafen GmbH setzt auf Container. Eine weitere Firma ist im Containergeschäft unterwegs. Die Firma Deisser befasst sich mit dem Leerumschlag dieses Tansportmediums.
Der Krieg in der Ukraine veränderte den Umschlag spürbar. Manches Neckarschiff ist jetzt auf der Donau unterwegs und transportiert Kohle und Getreide. Dies schlägt sich im Umschlag von mehr Kohle nieder, denn das Kraftwerk in Münster nutzt diesen Brennstoff noch. Ein Ende ist aber absehbar, denn das Kraftwerk wird auf Gas umgestellt.
In den nächsten Jahrzehnten wird dies auch Auswirkungen auf den Ölhafen haben, wenn Kraftfahrzeuge auf andere Antriebe umgestellt werden und in den Häusern die Heizungen getauscht werden. Deshalb ist es wichtig, die Wasserstoffproduktion im Hafen anzusiedeln. Kraftfahrzeuge, insbesondere LKW und Omnibusse, wie zum Beispiel die Busflotte der SSB, werden dieses Gas künftig vermehrt benötigen. Dieser Tage haben die Stadtwerke Stuttgart grünes Licht bekommen, eine entsprechende Anlage für „grünen Wasserstoff“ zu bauen. Der Stuttgarter Neckarhafen bildet den Energiehunger der Region ab!
Mittlerweile ist die Bautätigkeit bei Stuttgart 21 abgeflaut. Das bedeutet, dass der Umschlag an Baustoffen zurückgegangen ist. Andererseits ist Quarzsand sehr gefragt. Inzwischen hat sich eine Firma angesiedelt, die Quarzsand reinigt und zur Wiederverwendung aufbereitet. Insgesamt ist das Recycling vieler Produkte ein großes Thema an diesem Industriestandort mit mehreren Tausend Arbeitsplätzen.
Wir wünschen dem Stuttgarter Neckarhafen alles Gute für die Zukunft.
WILIH dankt Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer für diese Geschichte. Die historischen Fotos und Dokumente stammen aus dem Fundus des Alten Hauses Hedelfingen.
Nächstes Thema dieser Serie: Die Sage von der Falschen Klinge in Rohracker
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