Von den Neckarauen zum Hafen – zweite Geschichte
Lebendige Ortsgeschichte (Folge 27). Historisches aus und über Hedelfingen – unterhaltsam erklärt von Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer … Über Hedelfingen gibt es viel zu erzählen. Besonders gut und gerne tun dies der ehemalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und Hedelfingens Ortshistoriker Michael Wießmeyer. Seit Jahren begeistern die beiden Hedelfingen-Fans bei Vorträgen und Führungen ein stetig wachsendes Publikum mit ihren Geschichten über die Geschichte des vor gut hundert Jahren von Stuttgart eingemeindeten Neckarvororts. WILIH veröffentlicht hier eine Serie mit vielen interessanten Blicken auf die Historie Hedelfingens. In loser Folge wollen die Geschichten-über-Geschichte-Erzähler Seiler und Wießmeyer an dieser Stelle Lust auf Hedelfingen machen.
Thema dieser Folge: Von den Neckarauen zum Hafen – eine zweite Geschichte
In unserer ersten Geschichte zu diesem Thema haben wir erwähnt, dass sich das Ende der gärtnerischen und landwirtschaftlichen Nutzungen abzeichnete. Zum einen, weil Hedelfingen seine Selbständigkeit aufgab und sich zu Stuttgart eingemeinden ließ. Zum anderen, weil durch die Industrialisierung immer mehr Menschen nach Stuttgart übersiedelten und in erheblichem Umfang Wohnungsbau betrieben wurde. Die Einwohner erwarben einen gewissen Wohlstand. Die Anzahl der Kraftfahrzeuge stieg an, und so wurde es notwendig, eine Verbindungsstraße mit vier (!) Fahrspuren zu bauen, die heutige Bundesstraße 10. Sie wurde für täglich 10.000 Fahrzeuge konzipiert. An dieser Straße durfte nicht geparkt werden und es gab keine Geschwindigkeitsbegrenzung! Das war damals neu.
Mit dem Bau der Verbindungsstraße von Esslingen bis zunächst Stuttgart-Hedelfingen sollten die Ortsdurchfahrten von Hedelfingen und Obertürkheim entlastet werden. Diese waren schon lange an ihrer Kapazitätsgrenze gekommen. Die Esslinger Straße in Hedelfingen, die heutige Amstetter Straße, war nicht sehr breit und beidseitig beparkt. Sie konnte unmöglich den ganzen Durchgangsverkehr von Wangen nach Esslingen bewältigen. Abhilfe war also dringend notwendig. Ein Parkverbot auf einer Straßenseite reichte nicht aus.
Einen kritischen Blick auf die Großbaustelle B 10 warf die Untertürkheimer Zeitung am 18.7.1958. Die Arbeiten an der Bundesstraße 10 zwischen Hedelfingen und Esslingen gingen viel zu langsam vorwärts. Wie lange solle die Verkehrskalamität rechts des Neckars noch dauern, fragte man sich. Und: Wolle man auf die Menschen in diesem Streifen denn gar keine Rücksicht nehmen? Früh, kurz nach 4 Uhr gehe der Lärm los und verebbe erst nach 22 Uhr. Könne oder wolle das Innenministerium nicht die schweren und überschweren Lastzüge, die nur Transitverkehr trieben, auf die Autobahn verweisen? Sei die Ruhe der Neckartalbewohner nichts mehr wert? Fragen, die auch heute noch aktuell sind.
Wasser war der grimmigste Feind des Straßenbaues. Beim Bau der neuen Bundesstraße 10 waren an der Markungsgrenze zu Esslingen erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden. Der allgemeine Eindruck, es gehe mit dem Straßenbau nicht vorwärts, war verständlich und gleichzeitig auch falsch. Denn es war eine schwierige Baustelle. Ein schlechtes Querprofil des Spinnereikanals bei Esslingen-Weil machte Probleme, und manchmal ruhte die Baustelle ganz. Dreimal wurde die Baustelle überschwemmt. Schlamm und Fels erzwangen eine überlegte Vorgehensweise.
Am 28.2.1959 berichtete die Zeitung, dass es an der neuen B 10 keinen Winterschlaf gab. Der Bau der zweiten Fahrbahn erfordere erhebliche Vorbereitungen. Erst wenn diese fertig gestellt sei, werde eingeweiht. Am Palmenwald (dies ist der Wald zwischen heutigem Neckar-Center und Deponie Einöd) musste der Waldhang neben der alten B 10 ziemlich hoch hinauf angeschnitten werden, damit Platz geschaffen werden konnte für die künftige Vicinalstraße zwischen Hedelfingen und Brühl, zu der die alte B 10 degradiert wurde.
Von Hedelfingen bis zur Talstraße sollte es in einem zweiten Bauabschnitt der künftigen Uferstraße weitergehen. Das 4,2 Kilometer lange Teilstück wurde ausgeschrieben mit 135.000 Kubikmetern Erdarbeiten, 63.000 Quadratmetern Betonfahrbahn usw. Eine „Obertürkheimer Straße“ gab es nur noch jenseits der neuen Bundesstraße. Diesseits, innerhalb von Hedelfingen, wurde, was von ihr übrigblieb, in „Binderstraße“ umbenannt, nach dem Namen eines alteingesessenen Hedelfinger Geschlechts.
Da die Daimler-Benz AG in die früheren Schaudtschen Werkgebäude an der Obertürkheimer Straße eingezogen war und seit Monaten auf einem Riesengelände zwischen diesen Gebäuden und Otto-Hirsch-Brücken neue große Werkhallen erstellen ließ, hofften viele Hedelfinger und sprachen es auch aus: Daimler-Benz werde eine Fußgängerbrücke über die Bundesstraße bauen, wie es bei der Benzstraße in Untertürkheim der Fall war. Doch dürfte diese Hoffnung trügen, berichtete die Untertürkheimer Zeitung im April 1959.
„Eine neue Schnellverkehrsstraße in Stuttgart. Mit Vollgas von Hedelfingen nach Eßlingen.” So lautete die Überschrift der Zeitung am 10.7.1959. Der erste Bauabschnitt der Bundesstraße 10 wurde dem Verkehr übergeben – Weiterbau im September.
Im Laufe des Nachmittags, ehe der Arbeitsschlussverkehr einsetzte, fielen die weiß-roten Sperrschranken an den Ein- und Ausfahrten zur neuen Bundesstraße 10 zwischen Esslingen und Hedelfingen. Sie wurde als kreuzungs- und anbaufreie Schnellverkehrsstraße aus Beton gebaut und diente zugleich als Teilumgehung von Hedelfingen. Anschlussstellen wurden bei den Otto-Hirsch-Brücken sowie zwischen den Ortsteilen Esslingen-Brühl und Domäne Weil angelegt. 10.000 Fahrzeuge täglich wurden auf dieser Strecke gezählt. Die Zahl sollte sich in den nächsten Jahren verdoppeln.
Der große Augenblick, die Freigabe einer Schnellstraße ohne Geschwindigkeitsbegrenzung zwischen Stuttgart und Esslingen, trat zehn Minuten früher ein, als angekündigt worden war. Am Freitag um 14.50 Uhr fielen die Schranken zur neuen Bundesstraße 10 in Hedelfingen. Ein Werk, das volle 16 Monate Bauzeit in Anspruch genommen hatte, wurde ohne Sang und Klang dem Verkehr übergeben. Der erste Wagen, der die neue Straße in Richtung Esslingen passierte, war ein Volkswagen mit Esslinger Nummer. Hinter ihm brausten zehn weitere Fahrzeuge wie die wilde Jagd über die Strecke, für die übrigens von Anfang bis Ende Halteverbot bestand. Zehn Minuten später kamen die Fahrzeuge aus der Gegenrichtung an. Die „Einweihung“ war vollzogen.
Der Weiterbau der Uferstraße gab manche Nuss zu knacken. Harter Kampf gegen „aggressives Grundwasser“. Bei der Untertürkheimer Brücke musste die neue Bundesstraße 10 in eine Betonwanne gelegt werden, um bis zu ihrem vorläufigen Ziel beim Gaswerk in Gaisburg anzukommen. Ein Doppelband aus Beton führte durch Stuttgarts Hafengebiet. Autostraße und Schiffahrtskanal Seite an Seite. Die neue Bundesstraße 10 zwischen Hedelfingen und Gaisburger Brücke gehe ihrer Fertigstellung entgegen, war einem Zeitungsbericht von 1960 zu entnehmen. Die moderne Stadtautobahn von Stuttgart nach Esslingen war fertig und eingeweiht worden. Die neue B 10 ist eine Gemeinschaftsleistung von Bund, Land und Stadt.
Die Entfernung zwischen der König-Karls-Brücke in Stuttgart (Schwanenplatz) und der Pliensaubrücke in Esslingen betrug 10,4 km. Am Nachmittag des 9. März 1961 um 15 Uhr wurde das letzte Teilstück dieser Bundesstraße zwischen den Otto-Hirsch-Brücken in Stuttgart-Hedelfingen und dem Schwanenplatz in Stuttgart-Berg dem Verkehr übergeben. Damit waren die Städte Stuttgart und Esslingen durch eine neuzeitliche Stadtautobahn verbunden. Diese Straßenanlage dürfte auf lange Zeit hinaus auch gesteigerten Verkehrsansprüchen genügen, hieß es. Jedoch sei schon eine Erweiterungsmöglichkeit auf sechs Fahrspuren vorgesehen, falls einmal die Umgehungsstraße Waiblingen-Fellbach in der Nähe des Heizkraftwerks angeschlossen werden sollte. Die Gesamtkosten von der Markungsgrenze Esslingen bis Schwanenplatz betrugen 21.965.000 DM, berichtete das Amtsblatt der Stadt Stuttgart vom 9.3.1961.
Fast zeitgleich wurde der Stuttgarter Neckarhafen gebaut und am 31. März 1958 eingeweiht. Die „größte Einweihungsfeier der Nachkriegszeit in Groß-Stuttgart“, zu der die Eröffung des Stuttgarter Hafens am 31. März werden sollte, werde, so befürchtete manch einer, in ihrem Glanz nicht ganz ungetrübt sein. Bei einer Fahrt „Rund um den Hafen“ meinte der eine oder andere die „Achillesferse“ des weiträumigen Hafengebietes zwischen den Neckarhöhen entdeckt zu haben: das Fehlen fertiger Zufahrtsstraßen auf der Wangener und Hedelfinger Seite.
Bis zum Weiterbau der neuen B 10 werde der Hedelfinger Platz, so sagte Direktor Heeb, zu einem „gewissen Verkehrsknotenpunkt“, während Bezirksvorsteher Knauß etwas deutlicher von einem „neuralgischen Punkt“ sprach.
Das Foto oben zeigt die B 10 im Jahre 1960, als sie in Richtung Esslingen bereits fertig war, auf Höhe der Schaudt-Werke in Hedelfingen jedoch noch nicht ganz.
WILIH dankt Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer für diese Geschichte. Die historischen Fotos und Dokumente stammen aus dem Fundus des Alten Hauses Hedelfingen.
Nächstes Thema dieser Serie: Der Bau des Neckarhafens, seine Verkehrserschließung und Eröffnung
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