Wie Hedelfingen zu einem Schlössle kam

Lebendige Ortsgeschichte (Folge 17). Historisches aus und über Hedelfingen – unterhaltsam erklärt von Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer … Über Hedelfingen gibt es viel zu erzählen. Besonders gut und gerne tun dies der ehemalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und Hedelfingens Ortshistoriker Michael Wießmeyer. Seit Jahren begeistern die beiden Hedelfingen-Fans bei Vorträgen und Führungen ein stetig wachsendes Publikum mit ihren Geschichten über die Geschichte des vor gut hundert Jahren von Stuttgart eingemeindeten Neckarvororts. WILIH veröffentlicht hier eine Serie mit vielen interessanten Blicken auf die Historie Hedelfingens. In loser Folge wollen die Geschichten-über-Geschichte-Erzähler Seiler und Wießmeyer an dieser Stelle Lust auf Hedelfingen machen.

Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer beim Stöbern in historischen Fotos
Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer beim Stöbern in historischen Dokumenten

Thema dieser Folge: Wie Hedelfingen zu einem Schlössle kam

Im Situationsplan 1840 vom Oberamt Cannstatt, zu dem die selbstständige Gemeinde Hedelfingen wie auch die anderen Gemeinden im Neckartal damals gehörten, ist zu sehen, dass in diesem General-Bauplan für Hedelfingen das Gebäude 23 an der Hauptstraße von Stuttgart nach Ulm noch nicht eingezeichnet war. Die Gartenstraße (heute Gärtnerstraße) ist noch nicht bebaut, aber schon projektiert. Hedelfingen ist ambitioniert und will wachsen.

Die namenlose Hauptstraße von Stuttgart nach Ulm wird bald darauf zur Eßlinger Straße (damals noch mit „ß” geschrieben). Auf der Seite Richtung Neckar ist fast noch nichts bebaut. Das Neckartal ist Ackerbaufläche, und es gibt Gärtnereien und Baumwiesen. Der Gasthof Ochsen ist ein imposantes Gebäude, die „Kaserne“ (ein Wohnhaus) und das „Nagelhaus“ (ein Wohnhaus mit Kaufmannsladen der Familie Nagel), sowie ein weiteres Mietshaus sind der Abschluss der inneren Bebauung entlang der Eßlinger Straße. Anschließend gibt es nur (Wein-)Gärten. Erst viel weiter hinten steht allerdings schon das Gasthaus Hirsch (an der Kreuzung Obertürkheimer/Eßlinger Straße, heute Kreuzung Amstetter Straße/Binderstraße/Ruiter Straße). Wann genau das Gebäude Nummer 23 erstellt wurde, ist noch nicht ganz klar, vermutlich nach 1870.

Postkartenmotiv Gasthaus Lamm in Hedelfingen um 1900
Das Gasthaus Lamm um 1900

Der in Esslingen ansässige Privatier Johann Stoeger und seine Ehefrau Karoline, geb. Eisele, Tochter des Josef Eisele, Metzger und Wirt des Gasthauses Lamm in Hedelfingen, wollten sich in Hedelfingen niederlassen. 54 Ar Ackerland, direkt neben dem Mietshaus (heute Amstetter Straße 21) haben sie erworben. Stoeger war wohl sehr reich. Bereits jung hat er geerbt und konnte davon gut leben. 

Das Haus für eine Familie wirkte gewaltig. Natürlich war das Gebäude vom Ochsen größer, ein großer Gasthof mit Saalbau, Lebensmittelgeschäft und Kegelbahn im Freien. Auf der anderen Seite das alte Rathaus, mitten im Weg an der „Hauptstraße von Stuttgart nach Ulm“ auf der Kreuzung der heutigen Heumadener Straße. Schon beim Bau des Stoeger’schen Hauses sagten die Hedelfinger: „Was bauen die da für ein Schlössle hin?”

Unten die Räume für die Hauswirtschaft; Küche, Waschküche, Nähstube. Im 1. Stock, der sogenannten „Beletage“, wohnten die Stoegers standesgemäß. Im Dachgeschoss war das Dienstpersonal untergebracht. Den Eindruck, dass dieses Haus nicht zu Hedelfingen passt und ein Schlössle ist, verstärkte die große Gartenfläche, die zum Haus gehörte. Stoeger ließ es wie einen Park anlegen. Eine massiv gebaute Pergola umschloss das Grundstück. Für die Hedelfinger war es das „Schlössle“. 

Im Ersten Weltkrieg wurde der ganze alte Baumbestand gefällt und verheizt. Johann Stoeger starb früh. Vier Jahre länger als ihr Mann lebte seine Witwe im Schlössle. Die Verbindung zu ihren Hedelfingern war bei Karoline Stoeger nie zu verleugnen. Das Leben war für die Wengerter (Weingärtner) nicht immer leicht, und die „reiche Stoegerin“ half mit Krediten, damit mancher Wengerter weitermachen konnte. 

In der Oberamtsbeschreibung Cannstatt von 1895 steht: „Im Stoegerschen ‚Schlößle‘, einem neuen Haus mit Anlagen, wohnte um 1880 mehrere Sommer Staatsminister von Mittnacht.“ Hermann von Mittnacht war der erste Ministerpräsident des Königreichs Württemberg. Die Interessen Württembergs hat er sehr erfolgreich im Deutschen Reich vertreten. Der Weg zu einer parlamentarischen Monarchie gelang ihm. Das „Schlössle“ war ihm kurze Zeit Heimat.

Natürlich gibt es auch dazu eine Geschichte. Wilhelm Binder hat sie erzählt: „Herr von Mittnacht ist den Sommer über täglich in der Kutsche nach Stuttgart gefahren. Eines Tages haben zwei Schulbuben mit Steinen nach der Kutsche geworfen. Der Herr von Mittnacht meldete es dem Hedelfinger Schullehrer; der hat die zwei Lausbuben im Genick gepackt und weidlich durchgeprügelt.“

1893 erwarb Karl Ferdinand Bopp das „Schlössle“. Der ehemalige Kaufmann aus Münsingen, mittlerweile Privatier, zog mit seiner Frau Luise und seinen Kindern dort ein. Mit Bopp sind sein Schwiegersohn Rudolf Naser und Bopps Tochter Clara ins Schlössle gezogen. Rudolf Naser war Mitglied des freien Volksstaates Württemberg von 1920 bis 1924. Beide haben auch nach dem Besitzwechsel auf Oskar Bopp das Schlössle bis zu ihrem Tod bewohnt. 1909 ist Karl Bopp 72-jährig in Hedelfingen gestorben. Seine Frau Luise starb zehn Jahre später ebenfalls in Hedelfingen. 

Der jüngst geborene Oskar Bopp, geb. 1875, übernahm das Schlössle. 1903 schickte er seinen Eltern eine Postkarte, auf der stand: „Habe mich mit einem Mädchen aus Böhmen verlobt.” Er heiratete kurz darauf Berta Nietsche und betrieb mit ihr ein Konditorei-Café in Leitz im damaligen Königreich Sachsen. Nach dem Tod der Mutter übernahmen Oskar Bopp und seine Frau Berta 1922 das elterliche Anwesen in Hedelfingen. Nachwuchs hatte das Ehepaar nicht. Mit 47 Jahren nannte Oskar Bopp als Berufsbezeichnung Privatier. 1942 starb er in Hedelfingen, seine Frau Berta 1955. Bis zuletzt bewohnte sie die „Beletage“ des Schlössles.

1938 zog dann der spätere Landesbischof von Sachsen Hugo Hahn mit seiner Frau Erika, geb. von Baggehufwudt, ins Schlössle. Er war der zweite Pfarrer von Hedelfingen von 1938 bis 1946.

1928 hatte Oskar Bopp sein Anwesen, vermutlich wegen Geldknappheit, verkauft. Aber er hat für sich und seine Frau lebenslanges Wohnrecht eintragen lassen. So musste der neue Besitzer bis 1955 warten, bis er das ganze Haus in Beschlag nehmen konnte. 

Heute ist das Schlössle im Eigentum der Evangelischen Kirchengemeinde Hedelfingen. Die Wohnungen sind vermietet. Im Erdgeschoss ist die Kirchenpflege untergebracht.

WILIH dankt Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer für diese Geschichte. Die historischen Fotos und Dokumente stammen aus dem Fundus des Alten Hauses Hedelfingen.

Nächstes Thema dieser Serie: Hochzeit im Schlössle – die arrangierte Hochzeit


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