Deutschland macht sich locker – geht das gut?
Früher hat man sich zum Sommeranfang über Temperaturen unterhalten. Doch eingangs des Sommers 2021 geht es nur noch um Inzidenzwerte. Wie sich die Zeiten ändern. Ähnlich wie beim Autokauf. Waren früher mal Beschleunigung und Höchstgeschwindigkeit die Stammtisch-Gesprächsthemen, sind es längst Verbrauch und CO2-Ausstoß. So üben wir uns also im zweiten Corona-Sommer im Interpretieren der neuesten Regeln für das Zusammenkommen und Abstandhalten, grübeln über Sperrstunde oder Verweilverbot. Regeln, die längst niemand mehr komplett versteht, geschweige denn für sich konsequent durchhält. Lockerung ist angesagt, Öffnung, Freiheit, Grundrechte. Oder, um es mal klar auszusprechen: Jetzt geht’s um Freizeit und Urlaub. Doch machen wir uns nichts vor: Wenn wir jetzt im sprichwörtlichen Sinne die Sau rauslassen, als gäbe es kein Morgen, dann gibt es spätestens übermorgen den nächsten Lockdown. Das Virus mutiert nämlich fleißig weiter. Die plakative Formulierung mit der Sau verdanken wir übrigens einer Pressemeldung der Stadt Stuttgart, in der OB Frank Nopper gemeinsam mit Rathauskollegen aus der Region die Sorge zum Ausdruck gebracht hat, dass jetzt das zarte Pflänzchen namens Lockerung durch – verständliche, aber eben nicht durchweg vernünftige beziehungsweise verantwortungsvolle – Treffen in den Städten flugs wieder zertrampelt werden könnte. Und was passiert, wenn sich die Menschen nicht im Zaum halten können? Es muss wieder und weiter reglementiert werden. Ganz wenige Unvernünftige besorgen dann Einschränkungen für alle. Dankeschön! Als erste Folge der Ausschreitungen in Stuttgart in der vergangenen Samstagnacht wird jetzt die Freitreppe am Kleinen Schlossplatz in der Stuttgarter City an den Tagen, an denen sich besonders viele Menschen dort gerne treffen, gesperrt. Nur weil einige Wenige sich nicht beherrschen konnten, steht nun für alle an den fraglichen Tagen ab 20 Uhr die beliebte Treppe neben dem Kunstmuseum nicht mehr zur Verfügung. Und wenn am Montag die Schulen wieder aufmachen, darf man gespannt sein, wie die Schüler das Ende ihrer langen Durststrecke zu Hause „begehen” werden. Nicht die Schule selbst ist der kritische Punkt, die war und ist nicht das Problem. Dort werden Abstände gehalten, brav die Masken getragen, Klassenräume gelüftet und Regeln überwacht. Das Problem ist der Schulweg morgens und mittags und der gesellige Gemeinschaftsausflug während der großen Pause zum Supermarkt in Schulnähe. Wir haben das an dieser Stelle bereits vor einem halben Jahr thematisiert. Geändert im Sinne von verbessert haben sich die Rahmenbedingungen in der Zwischenzeit aber kaum. Im Gegenteil. Durch das ständige Hin und Her zwischen Click and Collect zu Meet und wieder zurück zu Collect – was offenkundig gar nicht überall richtig verstanden und schon gar nicht konsequent durchgehalten und kontrolliert wurde – bis hin zur vollständigen Öffnung jetzt ist ein Durcheinander entstanden, das wenig disziplinfördernd wirkt, in dem wir uns aber irgendwie eingerichtet haben. Im Gesamtbild mit Maskenskandal, Impfchaos und jetzt auch noch Testbetrug ist Corona doch längst zum Testfeld für möglichst erfolgreiches Suchen und Finden von Schlupflöchern – immer nach eigenem Ermessen – geworden. Die Pandemie stärkt den Gemeinsinn nicht, sie hält unserer Gesellschaft den Spiegel vor, sie fördert Egoismus weiter. Da hilft auch keine Impfung. Kann das gut gehen?
Rundgeschaut … Die wöchentliche WILIH-Kolumne