Flaschenpost aus Rohracker mit Geld ohne Wert

Lebendige Ortsgeschichte (Folge 14). Historisches aus und über Hedelfingen – unterhaltsam erklärt von Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer … Über Hedelfingen gibt es viel zu erzählen. Besonders gut und gerne tun dies der ehemalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und Hedelfingens Ortshistoriker Michael Wießmeyer. Seit Jahren begeistern die beiden Hedelfingen-Fans bei Vorträgen und Führungen ein stetig wachsendes Publikum mit ihren Geschichten über die Geschichte des vor gut hundert Jahren von Stuttgart eingemeindeten Neckarvororts. WILIH veröffentlicht hier eine Serie mit vielen interessanten Blicken auf die Historie Hedelfingens. In loser Folge wollen die Geschichten-über-Geschichte-Erzähler Seiler und Wießmeyer an dieser Stelle Lust auf Hedelfingen machen.

Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer beim Stöbern in historischen Fotos
Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer beim Stöbern in historischen Dokumenten

Thema dieser Folge: Flaschenpost aus Rohracker mit Geld ohne Wert

Nicht oft bekommt man eine Flaschenpost. Eine Flaschenpost, die 89 Jahre alt ist, ist eher ganz selten. Eine Flaschenpost aus Rohracker bekommt man nie. Und doch, in Rohracker ist alles möglich.

Martin Bücheler ist der Trockenmauerspezialist in Baden-Württemberg. In der Klinge in Hedelfingen waren einige Mauern einsturzgefährdet und mussten wieder instandgesetzt werden. Alfred Binder, der Vorsitzende der Weingärtnergenossenschaft Hedelfingen und Besitzer des Wengerts, beauftragte Martin Bücheler. Er und seine Mitarbeiter trugen die Mauern sorgfältig ab, sortierten die Steine. Jonathan und sein Kollege Sandor fanden dabei eine Flasche.

Das erstaunte; der Inhalt war völlig überraschend. Tatsächlich war es eine Flaschenpost. Ein Brief war drin und Geld. Der Brief datiert von 1932. Gottlob Nuding schreibt:

Restaurierte Natursteinmauer am Weinberghang
Die restaurierte Natursteinmauer

Diese Mauer hab ich gemacht am 27. und 28. Jan. 1932, weil sie einstürzen wollte. Wetter schön trocken, 2-6 Grad Kälte. In diesem Weinberg habe ich 1931 4 Eimer Wein bekommen. 5 mal habe ich gespritzt, der Eimer Wein kostete 180 Mark. Große Notzeit infolge Arbeitslosigkeit. Das Geld ist sehr knapp, da man nebenher garnichts verdienen kann. Anbei liegen Geldscheine, die wertlos sind von der Inflation 1923. Diesen Weinberg habe ich gekauft anno 1920 um 22180 Mark von Gotthilf Funk, Stadtschultheiß in Leonberg.

Gottlob Nuding, Gärtner und Weingärtner in Rohracker, geboren in Geradstetten im Remstal, 50 Jahre alt.“

Brief und Geld aus einer Flaschenpost
Der Inhalt der gefundenen Flasche

Der Verkäufer Gotthilf Funk war ein Nachfahre des am 9.1.1841 in Rohracker geborenen Gottlieb Friedrich Funk, der von 1875 bis 1898 Schultheiß in Hedelfingen war. Gottlob Nuding verkaufte den Wengert später an Adolf Diener, der wiederum dann an Alfred Binder.

Erstaunlich ist, was uns der Rohracker Gottlob Nuding in wenigen Worten alles mitteilt. Die Mauern machte man selber, und er machte es gut; immerhin 89 Jahre stand die reparierte Trockenmauer aus Sandsteinen. Im Januar 1932 bei zwei bis sechs Grad und schönem, also niederschlagsfreiem Wetter. Die Weinlese 1931 ergab 1.200 Liter Wein; 720 Mark hat er dafür bekommen. Das war sein Jahreslohn; Pflanzenschutzmittel und weitere Kosten sind abzuziehen.

Ein Arbeiter, wenn er denn Arbeit hatte, bekam 192 Reichsmark im Monat. Ein Liter Bier kostete 0,39 RM, ein Kilo Brot 0,38 RM. Ein Kilo Kaffee 6,28 RM. Ein Kilo Rindfleisch 2,45 RM, ein Ei 0,12 RM. Die Zeiten waren sehr hart; noch härtere Zeiten hatte Nuding gerade erst hinter sich gebracht. Er legt wertlose Geldscheine in die Flasche. Inflationsgeld. 1923 hatte es unseren Wengerter nochmals sehr hart getroffen. Erst 1920 hatte er den Weinberg gekauft. 22.180 Reichsmark hat er dafür bezahlt. Ein kleines Vermögen, wie wir jetzt wissen. 1931 hat er ca. 720 RM für seine Trauben bekommen. Bei dem Ertrag wären es über 40 Jahre, bis sich seine Investition refinanziert hätte.

Gottlob Nuding auf einer Weinbergmauer sitzend
Gottlob Nuding

1923 war das gesamte Ersparte futsch. Im November 1923 gab es dann endlich eine Währungsreform. Eine Billion Reichsmark entsprachen einer Rentenmark. Das wertlose Papier landete für seine Nachfahren in der Flasche. 

Besonders die Bevölkerung in kleinen Dörfern wie Rohracker und Hedelfingen litt unglaublich schwer. Über jedes Stückle musste man froh sein – um Kartoffeln, Obst, Gemüse und Sonstiges aus eigenem Anbau ernten zu können. Kaum erholte sich die Gesellschaft wieder etwas, kam 1929 die Weltwirtschaftskrise, und die große Arbeitslosigkeit begann. Weniger als die Hälfte der Rohracker Männer hatten eine Vollbeschäftigung. Auch dies hat Nuding in einem Satz geschildert: „Große Notzeit infolge Arbeitslosigkeit. Das Geld ist sehr knapp, da man nebenher garnichts verdienen kann.“ Die Kindersterblichkeit war hoch; auch bei Familie Nuding sind kleine Kinder gestorben. Verzweifelt schreibt er in sein Familienbuch: „Warum? Warum? Warum? So bald!”

Und trotzdem hat man sich immer wieder aufgerappelt und sich dem Leben gestellt. Die Not und das Leiden kann man sich heute nicht annähernd vorstellen. Wirtschaftlich war jeder Tag ein Tag des Überlebens – und der Ernährung der Familie gewidmet. Die ganze Familie war gefragt, Väter, Mütter und Kinder. Die Äcker wurden gemeinschaftlich bewirtschaftet. Und auch im Wengert musste die gesamte Familie – jeder nach seinen Möglichkeiten – mitarbeiten. Anders war es nicht zu schaffen.

Die Verfasser danken Peter Nuding, dem Enkel, sehr herzlich für die weiteren Details über Gottlob Nuding. Peter Nuding hat immer noch Weinberge und betreibt eine kleine, aber sehr gute Brennerei im Ort Rohracker.

WILIH dankt Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer für diese Geschichte. Die historischen Fotos und Dokumente stammen aus dem Fundus des Alten Hauses Hedelfingen.

Nächstes Thema dieser Serie: Die verlorengegangene Schulglocke, oder an was man sich so alles erinnert


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