
Hedelfingen – 70 Jahre Weingärtnergenossenschaft
Lebendige Ortsgeschichte (Folge 35). Historisches aus und über Hedelfingen – unterhaltsam erklärt von Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer … Über Hedelfingen und Rohracker gibt es viel zu erzählen. Besonders gut und gerne tun dies der ehemalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und Hedelfingens Ortshistoriker Michael Wießmeyer. Seit Jahren begeistern die beiden Hedelfingen-Fans bei Vorträgen und Führungen ein stetig wachsendes Publikum mit ihren Geschichten über die Geschichte des vor gut hundert Jahren von Stuttgart eingemeindeten Neckarvororts. WILIH veröffentlicht hier eine Serie mit vielen interessanten Blicken auf die Historie Hedelfingens. In loser Folge wollen die Geschichten-über-Geschichte-Erzähler Seiler und Wießmeyer an dieser Stelle Lust auf Hedelfingen machen.

Thema dieser Folge: 70 Jahre Weingärtnergenossenschaft Hedelfingen
Im Gasthaus Hirsch trafen sich am 11.6.1955 viele Wengerter, um eine Weingärtnergenossenschaft zu gründen (zweiseitiges Gründungsprotokoll unten). Eingeladen hatte der Ortsobmann der Landwirtschaft Hartmann. Bezirksvorsteher Otto Knauß, Landwirtschaftsrat Schlotterbeck, Vertreter der Untertürkheimer Zeitung und der Hedelfinger Bank waren ebenfalls anwesend.
Geplant war die „gemeinsame Kelterung und Verwertung der in der Wirtschaft der Mitglieder geernteten Weintrauben“. Der Geschäftsanteil betrug pro Genosse 200 DM, die Haftung pro Geschäftsanteil 500 DM. Es konnten mehrere Geschäftsanteile gezeichnet werden.
Die Gründung war gründlich vorbereitet. 25 Mitglieder waren bei der Gründungsversammlung anwesend, 12 weitere unterschrieben noch 1955.
Gründungsmitglieder waren Hedelfinger, in der Liste fanden sich u.a. die Namen Hartmann, Binder, Diener, Eblen, Will, Greuling, Koch, Zobel, Claar, Steinbrenner, Sommer, Schray, kurz danach sind auch Mitglieder aus den Familien Dalferth, Wendnagel, Ruff, Bader, Lung, Bücheler und weitere eingetreten.
Richard Hartmann wurde als Vorsitzender, Albert Eblen als sein Stellvertreter und Alfred Binder sen. als weiteres Mitglied des Vorstandes gewählt. Zu Mitgliedern des Aufsichtsrates wurden Wilhelm Hartmann, Adolf Diener und Hermann Will gewählt. Zum Rechner der Genossenschaft wurde die Hedelfinger Bank gewählt.
Bereits am 12. Juli 1955 erfolgte die Eintragung der Genossenschaft beim Amtsgericht Stuttgart.
Die erste gemeinsame Ernte wurde 1955 eingebracht. Es gab auch kleine Ernten. Ein Beispiel: Das Mitglied Werner Bücheler lieferte 27 kg Trollinger an, 5 Liter nahm er zurück, 6,5 kg wurden dafür abgezogen, sodass der Genossenschaft 20,5 kg verblieben. 74 Grad Öchsle hatte sein abgelieferter Trollinger; dadurch ergaben sich 1.517 Zuckereinheiten, die mit 2 Pfennig multipliziert wurden. 30,34 DM ergaben sich daraus. Am 24.4.1958 erhielt Werner Bücheler eine Anzahlung von 10,25 DM. Für die Rücklieferung seiner 5 Liter wurden nochmals 0,55 DM je Liter abgezogen, sodass er als Restguthaben 17,34 DM im Jahr 1959 erhielt. Je abgegebenes Kilo gab es 1,34 DM. Die Verkaufspreise waren für Weißwein 3,30 DM und für Rotwein 3,10 DM.

Die Genossenschaft entwickelte sich weiter. Der Hedelfinger Herbst wurde etabliert und damit die Hedelfinger Kirbe wiederbelebt. Es dauerte ein paar Jahrzehnte, bis die Kirbe wieder einen Kirbejahrgang hatte. Die Weinfeste und das soziale Engagement der Genossenschaft machten sie bald zu einer wichtigen Säule im Gesellschaftsleben des Ortes. Hedelfingen profitierte von einer gesunden und starken Weingärtnergenossenschaft. Und der neu erstarkte Gewerbe- und Handelsverein trug zusätzlich zu der großen Erfolgsgeschichte der Vereine des Ortes bei.
Durch interne Unstimmigkeiten mit Genossenschaftsmitgliedern schied Richard Hartmann als Vorsitzender aus und wurde selbstständiger Wengerter. Seine Position übernahm Alfred Binder Senior.
Durch den Terrassenweinbau wurde es für die Genossenschaft immer schwieriger, die Rebhänge zu bewirtschaften. Flächen brachen weg, und teilweise lagen Anbauflächen brach. Die jüngste Genossenschaft in Württemberg schaffte es, eine der letzten großen Umlegungen (Rebflurbereinigung) zu bekommen. Dadurch fielen die Weinbergmauern weg, und die Rebhänge konnten mit Maschinen bearbeitet werden. Neue, breite Wege entstanden, und die meisten Weinberge konnten von oben und von unten angefahren werden. Dadurch reduzierte sich die Arbeitszeit je Hektar, und die Wirtschaftlichkeit stieg. Durch das Wassermanagement reduzierte sich die Überflutungsgefahr der darunter liegenden bebauten Grundstücke.
Von 1980 bis 1983 erfolgte die Umlegung. Jahrhunderte alte Mauern wurden abgebaut und abgerissen, und viele Steine wurden in der Rebfläche verlocht (vergraben). Zahlreiche abgetragene Mauersteine wurden auf einem Grundstück auf der Burg aufbewahrt. Nach etlichen neu verbauten Mauern erwarb der heutige „Trockenmauer-Papst“ Martin Bücheler die restlichen Mauersteine. Der ungewöhnliche und legendäre Kreisverkehr am Dürrbachplatz entstand mit geretteten Stubensandsteinen. Martin Bücheler erstellte im klassischen Trockenmauerbau eine Steinmauer in Schneckenform. Es ist eine Hommage an den Weinbau der Orte Hedelfingen und Rohracker.
Der Weinbau entwickelte sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte rasant weiter. Der Pflanzenschutz wurde anfänglich noch mit Handspritzen, später Motorspritzen und dann mit dem Schlauch ausgebracht. Nach der Umlegung konnte man maschinell mit Weinbergschleppern den Pflanzenschutz ausbringen. Seit zwei Jahren wird der Pflanzenschutz teilweise mit Drohnen ausgebracht.
Hatte man anfänglich noch die Zwei-Schenkel-Stockerziehung, so wurden es mehr und mehr Drahtanlagen. Laubarbeit mit der Rebschere und der Heckenschere wurden – nach der Umlegung – vom maschinellen Laubabschneider am Weinbergtraktor abgelöst.

Die Trauben wurden zur Kelter angeliefert (siehe Beitragsfoto oben aus dem Jahr 1960) und in den ersten Jahren der Genossenschaft in die Raspel geschaufelt. Wehe, man war nicht schnell genug. Darunter stand der Maischewagen, den man auf die Waage schob und nach dem Wiegevorgang und der Öchslegrad-Ermittlung den Inhalt in die Maischegrube hinabließ. Von da wurde die Maische in Zuber zum Abtransport und später in die eingebauten Tanks gefüllt, die man heute noch sehen kann. Der Traubensaft bzw. die Maische wurde mittels Tank-Lastwagen an die WZG geliefert, wo er zu Wein vergoren und ausgebaut wird. Nach der Umlegung 1984 wurde eine neue Presse gekauft und eine Absauganlage für die Trauben eingebaut. Damit hatte das Schaufeln ein Ende.
Die Zahl der früher zahlreichen sogenannten SOS-Wengerter (Samstag oder Sonntag) nahm ständig ab. Wurden einst von vielen Familien – die Genossenschaftsmitglieder waren – nach der Arbeit oder am Wochenende die Weinberge und Grundstücke bestellt, hat sich im Laufe der Jahre die Struktur dramatisch gewandelt. Heute gibt es immer weniger Wengerter, die das Ganze stemmen müssen. Wie nicht nur hier vor Ort verändert sich die Landschaft, selbst umgelegte Weinberge werden aufgelassen und die Weinstöcke abgeräumt.
Der Verbraucher hat heutzutage eine große Auswahl an in- und ausländischen Weinen. Die Örtlichen geraten ins Hintertreffen. Und: Es wird insgesamt weniger Wein konsumiert.
Die Genossenschaft ist und war gesellschaftlich aus Hedelfingen nicht wegzudenken. Viele Dinge hat sie in den vergangenen Jahrzehnten bewegt und verändert. So hat sie hat auch die Vereine und die Kirchengemeinden sehr oft unterstützt. Deshalb gilt noch heute: Ohne die Weingärtnergenossenschaft kann man sich Hedelfingen nicht vorstellen.
WILIH dankt Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer für diese Geschichte. Die historischen Fotos und Dokumente stammen aus dem Fundus des Alten Hauses Hedelfingen.
Nächstes Thema dieser Serie: Industrie mitten im Ort – Von Dampfziegelwerken bis zur Bleicherei
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