Kirbe 1983 – Neubeginn mit einer Neuerung

Lebendige Ortsgeschichte (Folge 16). Historisches aus und über Hedelfingen – unterhaltsam erklärt von Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer … Über Hedelfingen gibt es viel zu erzählen. Besonders gut und gerne tun dies der ehemalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und Hedelfingens Ortshistoriker Michael Wießmeyer. Seit Jahren begeistern die beiden Hedelfingen-Fans bei Vorträgen und Führungen ein stetig wachsendes Publikum mit ihren Geschichten über die Geschichte des vor gut hundert Jahren von Stuttgart eingemeindeten Neckarvororts. WILIH veröffentlicht hier eine Serie mit vielen interessanten Blicken auf die Historie Hedelfingens. In loser Folge wollen die Geschichten-über-Geschichte-Erzähler Seiler und Wießmeyer an dieser Stelle Lust auf Hedelfingen machen.

Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer beim Stöbern in historischen Fotos
Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer beim Stöbern in historischen Dokumenten

Thema dieser Folge: Kirbe 1983 – Neubeginn mit einer Neuerung

„Kirbe! Kirbe!” hallt es Ende August, Anfang September durch Hedelfingen. Junge Leute rufen „Kirbe! Kirbe!” Und ziehen durch den Ort. Kirbe? Was ist das? Gleich mal im Lexikon bzw. in der Suchmaschine geschaut. Duden: Kirbe, die (bayr. für Kirchweih). Hä? Die Kirche wird geweiht? Wie bitte? Im Netz heißt es: Der Herbst ist die Zeit der Feste. So werden vielerorts noch die traditionellen Kirchweihen, Kirben und Kerwen begangen, Herbst-, Wein-, und Ernte‍(dank)‍feste stehen auf dem Programm. Aha! So ist das!

Und in Hedelfingen festen sie auch? Ja, seit 1983 wieder. Es gab einen Wiederanfang mit einer Neuerung. Und man muss schon sagen, der erste Dienstag im September eines jeden Jahres ist in Hedelfingen „Nationalfeiertag“ mit Krämermarkt und Kirbe. Wer etwas auf sich hält, ist, wie man sagt, „uff d‘r Gass“ – auf der Straße – zu finden und trifft Freunde, Bekannte, Nachbarn, Jahrgangskameraden, Weggezogene, Zugezogene, einfach alle, die einem im Laufe des Lebens begegnet sind. Manche kehren auch extra nach Hedelfingen zurück, um Kirbe zu feiern. Man redet miteinander, trinkt etwas, geht in die Wirtshäuser und genießt herbstliche Speisen und Spezialitäten und natürlich den Wein. Der „Hedelfinger Herbst“, wie die Kirbe auch noch heißt, wird von den Weingärtnern und der Freiwilligen Feuerwehr als Arbeitsgemeinschaft veranstaltet. Jetzt aber mal der Reihe nach:

Mittwochs vor dem ersten Dienstag im September wird vom „Jahrgang“ die Kirbe ausgerufen. Die 20-jährigen ziehen durch die Straßen des Ortes und rufen unablässig „Kirbe! Kirbe!”, auf dass es alle im Ort wissen, dass wieder Kirbe ist. Dies geht so lange, bis die Stimmen versagen, obwohl ständig mit Bier, Wein und Schnaps „geölt“ wird. Aber irgendwann ist die gepflegteste Stimme nur noch ein Krächzen.

Donnerstags bereitet sich der Kirbejahrgang dann auf den Kirbetanz vor. Wenigstens einen Walzer müssen die 20-jährigen können. Dies ist dann am Sonntag unter Beweis zu stellen. Also wird unter Anleitung von Thomi Winkler, dem Dirigenten des I. Musikvereins Hedelfingen-Rohracker, fleißig geübt.

Freitags hat der Kirbejahrgang den Riesentrauben zu binden. Familie Gerhard und Wilhelm Haidle wissen, wie es geht, und sind den jungen Damen und Herren, auch Kirbemädle und Kirbebuben genannt, mit Rat und Tat behilflich. Und so hängt er dann in der Kelter, der Riesentrauben, rund 120 kg schwer. Puh! Und wer soll ihn am Sonntag durch den Ort schleppen – beim Umzug durch die Straßen von Hedelfingen?

Samstags ist heutzutage bei der Kirbe Ruhetag bzw. Zeit für letzte Vorbereitungen. Früher wäre abends der Kirbetanz gewesen, also eine Tanzveranstaltung für die 20-Jährigen und ihre Eltern, Verwandten, Bekannten, Freunde. Aus dem Kirbetanz mit Live-Kapelle wurde dann die Kirbedisco – die Eltern, Verwandten, Onkel und Tanten blieben zu Hause, und die Jugend war unter sich. Aber damit war auch das zahlungskräftige Publikum weg – nämlich daheim. Der Abend war nicht mehr zu finanzieren und fällt seitdem aus. Schade! Oder?

Kirbe Hedelfingen 1983
Titelblatt der Hedelfinger Kirbezeitung 1983

Sonntags beginnt der Tag mit einem ökumenischen Gottesdienst in der Kelter mit Musik des Posaunenchores. Der Gottesdienst ist gut besucht und der Kirbejahrgang schon früh auf den Beinen. Die Samstagnacht mit Ausgehen steckt aber in denselbigen. Nach dem Gottesdienst ist dann Frühschoppenkonzert mit dem Musikzug der Feuerwehr Stuttgart zum Beispiel oder dem örtlichen Musikverein. Das Publikum wechselt zum Teil. Die einen gehen zum Mittagessen nach Hause, und die anderen kommen, um in der Kelter zu Mittag zu essen. Ein erstes Viertele Wein wird probiert.

Gegen 13 Uhr macht sich eine gewisse Unruhe breit. Und plötzlich machen sich die jungen Leute an dem prächtig geschmückten Riesentrauben zu schaffen. Mit Unterstützung der Feuerwehrmänner wird der mit Blumen verzierte und nun gut 130 kg schwere Trauben vor das Bezirksrathaus getragen. Der Musikverein formiert sich – ebenso der Kirbejahrgang. Ein Streifenwagen sichert die Straße ab. Marschmusik erklingt, und der Zug setzt sich langsam in Bewegung. Zwei kräftige junge Kirbebuben haben den Riesentrauben geschultert und tragen ihn schaukelnd durch die Straßen. Immer wieder wird abgewechselt. An mancher Gaststätte spendiert die Wirtin dem Kirbejahrgang ein Getränk. Mit letzter Kraft kommt der Zug schließlich vor der Kelter an. Ein Tusch der Musikkapelle erklingt.

Zwei Kirbebuben haben nun die Aufgabe, mit dem Riesentrauben die Leitern hochzusteigen und den Trauben an dem Balken hoch über dem Eingang einzuhängen. Die anderen Kirbemädle und Kirbebuben tanzen dazu den einstudierten Walzer so lange, bis der Trauben hängt. Das kann manchmal dauern! Die zwei Kirbebuben hoch oben auf der Leiter bringen das Kirbegedicht zu Gehör, leeren ein Glas Wein in einem Zug und zerschmettern das leere Glas auf dem Boden. Sofort werden die Scherben aufgekehrt, und das Fest wird fortgesetzt.

Nachmittags spielt der I. Musikverein Hedelfingen-Rohracker zur Unterhaltung auf, und manche machen einen Besuch im Café Florian im Feuerwehrhaus, um selbstgebackenen Kuchen der Feuerwehrfrauen – und vielleicht auch von Feuerwehrmännern – sowie ein Tässchen Kaffee zu genießen. Der Abend in der Kelter klingt bei Musik, Wein, Gegrilltem, Zwiebelkuchen und Maultaschen aus.

Montags ist Aufräumen, Ausruhen und Vorbereiten angesagt. Näheres regelt ein Dienstplan. Manche gehen auch zur Arbeit.

Dienstags ist „Nationalfeiertag“, wie gesagt. Märkte Stuttgart lässt einen großen Krämermarkt auf den Straßen rund ums Bezirksrathaus aufbauen. Nach langsamem Start am Morgen wird die Besucherschar immer größer, bis es richtig voll ist. Es ist dann viel los, und auch die Wirte servieren ihre herbstlichen Traditionsgerichte wie z.B. Schlachtplatte, Kesselfleisch oder Rostbraten. Auch wenn abends der Krämermarkt bereits wieder abgebaut ist, läuft das Fest in und vor der Kelter auf vollen Touren. Der Jahrgang gibt sein Bestes und ruft immer wieder „Kirbe! Kirbe! – Wer bleibt stets der Kirbe treu? Die Hedelfinger Kirbe-Säu! – Kirbe! Kirbe!”. Es ist schon dunkel, und die Stimmen sind rauh, bis die letzten Gäste gehen und der Tag ausklingt.

Mittwochs hat der Kirbejahrgang noch die traurige Pflicht, die Kirbe zu Grabe zu tragen und sie zu verbrennen. Abends treffen sich die Kirbemädle und Kirbebuben sowie Freunde und Bekannte und ziehen unter den getragenen Klängen des Musikvereins mit einem schwarzen Sarg von der Kelter zum Gelände des Waldheimvereins. Die Feuerwehr steht dort schon bereit, um ein sicheres Verbrennen der Kirbe zu gewährleisten. Der Kirbejahrgangsvorstand beklagt mit tränenerstickter Stimme die Vergänglichkeit der Kirbe, dankt allen Helfern für das gelungene Fest und gibt das Zeichen zum Entzünden des Feuers. Dann wird die Kirbe eingeäschert.

Wie ist es nach der Unterbrechung zur heutigen Form der Kirbe gekommen?

Mit wenigen Unterbrechungen gab es die Kirbejahrgänge fast durchgängig. Das älteste Foto in unserem Archiv zeigt den Jahrgang 1893 bei der Kirbe 1912. 1964 war der Jahrgang 1944/45 der letzte, der die Kirbe ausgerichtet hat. Nach einer längeren Pause beschloss im Jahr 1983 der Jahrgang 1963, die alte Tradition wieder aufleben zu lassen (Foto oben).

Thomas Bachmann war der unermüdliche Motor dieser Unternehmung. Es war ein spannendes Unterfangen. Wie soll man alte Traditionen wieder aufleben lassen – und wie war das denn früher? Soll es wie einst einen Tanzabend geben oder lieber freitags eine Disco in der Turnhalle? Will man am Samstag zum Kirbeball einladen und die Musik-Gruppe „Sambos“ spielen lassen? Soll eine Sektbar betrieben werden und soll Tanz bis in den Morgen sein? Kirbeumzug und Kirbebeerdigung sind feste Programmpunkte, die auch die Vorgänger bereits hatten. Der damalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Heinz Weber unterstützte die Wiedergeburt des Kirbejahrganges nach Kräften. Mit Brigitte Bücheler war ein kurzer Draht zum Jahrgang gefunden; schließlich arbeitete sie im Vorzimmer von Heinz Weber.

Kirbe Hedelfingen 2023
Brigitte Bücheler putzt das 40 Jahre Jahrgangsschild

Über 60 junge Leute wurden angeschrieben. 20 davon trafen sich das erste Mal im Übungsraum der Freiwilligen Feuerwehr Hedelfingen. Als neues Element der Kirbe wurde eine Kirbezeitung ins Leben gerufen. Heute, 40 Jahre später, ist dies eine weitere Tradition, die jeder nachfolgende Jahrgang umgesetzt hat. Anzeigen der heimischen Firmen und von Nachbarorten werden platziert. Für uns Ortshistoriker ein Eldorado zum Nachschlagen. Welche Firmen gab es in den jeweiligen Jahren? Welche gibt es heute nicht mehr? 73 Firmen haben 1983 inseriert. Wenn wir großzügig rechnen und auch Nachfolgebetriebe mitzählen, gibt es davon heute noch 23. Ein, nicht nur für Hedelfingen, typischer Niedergang kleiner Firmen. Dies ist sehr bedauerlich.

Brigitte Bücheler und Thomas Bachmann waren die Kirbevorstände. Die Weiteren im Jahrgang waren Klaus Rüger, Ralf Ziegler, Ralf Bierwisch, Martin Gerstenlauer, Gerald Pfender, Dieter Hermann, Birgit Schwarz, Monika Bühler, Birgit Bohnacker, Angela Kirr, Sabine Steiner, Bernd Maute, Gabi Huter, Karin Lautenschlager, Birgit Rösner, Susanne Würthner, Jürgen Rosner, Gerald Wüst, Margret Denneler.

Thomas Bachmann, der leider im Alter von 44 Jahren verstorben ist, hat das besondere Kirbeschild mit dem Weinrömer gestaltet. Auch am Rathaus ist er mit der von ihm gestalteten „Knausbira“ (dem Necknamen der Hedelfinger) verewigt. Der Jahrgang wurde von Anfang an tatkräftig unterstützt von der Freiwilligen Feuerwehr Hedelfingen und den Weingärtnern. Somit lebt die Kirbe fort.

Wir wünschen allen viel Freude beim Hedelfinger Herbst 2023!

WILIH dankt Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer für diese Geschichte. Die historischen Fotos und Dokumente stammen aus dem Fundus des Alten Hauses Hedelfingen.

Nächstes Thema dieser Serie: Das Schlössle in Hedelfingen


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