Meißeln ab halb Zwei: Zwischenangriff auf die Nachtruhe

Stuttgart-Wangen … Wie laut ist Meißeln mitten in der Nacht? Wie fühlt es sich an, wenn 30 Meter unter dem Haus das Gestein für den Tunnel ausgebrochen wird? Wie sind die Klagen der Anwohner einzuschätzen? WILIH-Herausgeber Manfred Kassen unternahm in der Nacht vom 5. auf den 6. November einen Selbstversuch vor Ort – nach Redaktionsschluss der WILIH-Ausgabe vom 11.11.2015 und somit ergänzend zu unserem dortigen Beitrag auf Seite 3 („Geduldsfaden wird immer dünner”).

Was bisher geschah: Vom „Zwischenangriff” an der Ulmer Straße in Wangen (neben ALDI) werden je zwei Tunnelröhren für die Stuttgart 21-Bahnstrecke zum Hauptbahnhof bzw. nach Ober-/Untertürkheim gebaut. Am 4. Dezember 2013 – mit dem „Tunnelanstich” – ging es dort los (WILIH 10.12.2013). Im September 2014 begannen die Sprengungen. Nach einem Jahr waren der 40 Meter tiefe Schacht und der 105 Meter lange Zugangsstollen fertig – Anfang 2015 sollte der Vortrieb des Obertürkheimer Tunnels starten. Doch dann kam in Wangen mehr Grundwasser hoch als gedacht. Die Bahnprojektgesellschaft beantragte deshalb eine Tieferlegung des Obertürkheimer Tunnels. Am 29. April kam die Genehmigung vom Eisenbahn-Bundesamt, ab dann wurde wieder gesprengt (WILIH 10.6.2015). Zunächst von 7 bis 20 Uhr, seit Juli darf von 6 bis 22 Uhr gesprengt werden (WILIH 22.7.2015). Seit Anfang Oktober werden Anwohner der Nähterstraße (zwischen Kirschen-  und Langwiesenweg) nachts durch den Lärm unterirdischer Meißelarbeiten aus dem Schlaf gerissen. Seit 9. Oktober verteilt die Bahn Hotelgutscheine. Doch nach einem Monat sind die Betroffenen entnervt, fordern eine nächtliche Betriebsunterbrechung.

dB Messung Beate-Tunnel Stuttgart Wangen Stuttgart 21 Zwischenangriff Ulmer Strasse
Typische Nachtruhe: 35 dB

Nach Bahn-Angaben wird die Sprengerlaubnis bis 22 Uhr möglichst ausgenutzt. Das heißt: Zum letzten Mal werde kurz vor 22 Uhr noch einmal gesprengt. Danach müssten erst das abgesprengte Gestein abgetragen und abtransportiert werden, erklärte ein Bahnsprecher im Gespräch mit WILIH. Anschließend würde noch der Tunnelfirst mit „Rohrschirmen” und Spritzbeton gesichert. Daher startet das Meißeln in der Regel erst nach Mitternacht.

Gegen 23.50 Uhr ist am 5. November noch alles ruhig rund um das „Epizentrum” an der Nähterstraße. Straßengeräusch bei 40 Dezibel. Im geschlossenen Auto pendelt der Wert um 35 Dezibel. So viel bzw. wenig wie wir in einer Wohnung Betroffener an der Nähterstraße am Vortag gegen 16 Uhr gemessen haben. 40 Dezibel waren es da, als ein Auto vor dem Haus vorbeifuhr.

Um Mitternacht ist die Stadtbahn, die an der Haltestelle „Im Degen” ein- und ausfährt, weit und breit das Lauteste. Warten auf das angeblich nervtötende „Tock-tock-tock” aus dem Bahntunnel. 0.30 Uhr: nach wie vor nichts zu hören. Nächtlicher Spaziergang zur Jägerhalde hoch: Auch von dort kein Klopfgeräusch zu vernehmen. Allerdings ist das Quietschen der Kräne auf der hell erleuchteten Zwischenangriff-Baustelle in der Höhe deutlicher zu vernehmen. Auch Im Degen ist nichts von den Meißelarbeiten im Untergrund zu hören. Jetzt ist es 1 Uhr. Zurück im Auto, das auf der Nähterstraße steht. Fenster auf, nichts zu hören, Fenster zu. Raus aus dem Auto, über die Nähterstraße gelaufen, nichts. Wieder ins Auto, weiter warten. Ich will dieses Geräusch selber hören!

1.35 Uhr – im geschlossenen Auto: „Tock-tock-tock”. Im Sekundentakt, mindestens. Raus aus dem Auto, rein ins Haus, in dem ich das Meißeln live erleben darf. Erste Erkenntnis: Schon auf der Nähterstraße ist das rhytmische Meißeln gut zu hören. Ich würde es dort nicht als Lärm bezeichnen, aber man hört es. Zumindest um halb Zwei in der Nacht. Tagsüber würde man es vielleicht wegen der Umgebungsgeräusche überhören können.

dB Messung Beate-Tunnel Stuttgart Wangen Stuttgart 21 Zwischenangriff Ulmer Strasse
Typische Zunahme nach Start des Meißelns: 58 dB

Im Hauseingang die zweite Erkenntnis: Dort ist das „Tock-tock-tock” deutlich stärker zu vernehmen. Eine halbe Stunde werde ich das auf mich wirken lassen. Und immer wieder messen. Die Ruhepausen zwischen den Meißelarbeiten sind kurz. Fünf, acht, drei, elf Sekunden. Nach der Ruhe (um 35 Dezibel) beginnt immer wieder für fünf bis zehn Sekunden, selten länger, das Meißeln.

Dritte Erkenntnis: Obwohl die Arbeiten am Tunnelgestein rund 30 Meter unter dem Haus stattfinden, ist das Klopfen gut zu hören. 30 Meter: Das ist immerhin so viel wie sechs Autos hintereinander. Nun bin ich hellwach und achte auf jedes Geräusch, das mag die Sensibilität hoch halten. Aber: Ich kann mir schwer vorstellen, bei diesem Hämmern einschlafen zu können. Ich kann mir sogar gut vorstellen, von diesem Hämmern wach zu werden.

Aber was ich mir vorstellen kann, spielt keine Rolle. Was zeigt mein Messgerät?* Während der Meißelphasen pendelt die digitale Anzeige zwischen 46 und 59 Dezibel. Zum Vergleich: Tagsüber, wenn ein Auto am Haus vorbeifährt, sind drinnen 40 Dezibel zu messen. Ein anderer Vergleich: 54 Dezibel hatten wir kürzlich im Bereich des betreffenden Hauses nachmittags auf der Nähterstraße gemessen – ohne Autoverkehr (www.wilih.de 27.10.2015: Wie laut ist eigentlich Lärm?). Vierte Erkenntnis: Während der nächtlichen Meißelarbeiten ist es in einem Haus über dem Beate-Tunnel nachts mindestens so laut wie tagsüber vor dem Haus.

dB Messung Beate-Tunnel Stuttgart Wangen Stuttgart 21 Zwischenangriff Ulmer Strasse
Typischer Wert nach letztem Meißelschlag: 53 dB

Fünfte Erkenntis: Obwohl ich mit Horchen, Messen und Notieren konzentriert bei der Sache bin, geht mir das ständige Tockern schon nach einer Viertelstunde auf die Nerven. Es gibt Anwohner, die anfangs – als das mit dem nächtlichen Meißeln losging – dachten: Das steck’ ich weg. Und die nach einem Monat das Geräusch unterbewusst so präsent haben, dass sie jetzt sagen: Das belastet mich doch! Für mich nachvollziehbar.

Sechste Erkenntnis: Ein Vibrieren des Hauses – bis hin zu tanzenden Gläsern im Schrank – spüre ich nicht. Über dieses Phänomen war allerdings in der ersten Oktober-Woche berichtet worden. Inzwischen müsste der Tunnelvortrieb – nach Bahn-Angaben 20 Meter pro Woche – gut 60 Meter vorangekommen sein. Das „Epizentrum” liegt inzwischen irgendwo unter den Gärten zwischen Nähterstraße und Im Degen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich auf wackelnde Möbel jetzt vergeblich warte. Zumal ja auch die Distanz zwischen Tunnel und Erdoberfläche aufgrund der Topographie mit jedem Meter Tunnelvortrieb zunimmt. Man darf gespannt sein, was in Kürze die Bewohner Im Degen berichten werden.

dB Messung Beate-Tunnel Stuttgart Wangen Stuttgart 21 Zwischenangriff Ulmer Strasse
Spitzenwert: 70 dB

Inzwischen ist es 2.08 Uhr. Das Meißeln hört auf. Muss jetzt das ausgebrochene Gestein abtransportiert werden? Wie lange wird das dauern? Nein, es dauert nicht. Um 2.10 Uhr geht es weiter. „Tock, tock, tock” wie zuvor. Vereinzelt etwas schneller, aber meistens pro Sekunde ein „Tock”. Aber jetzt wird es plötzlich lauter. Einzelne Schläge sorgen für neue Spitzenwerte: 64 Dezibel, 68 Dezibel, 69 Dezibel. Den Spitzenwert lese ich um 2.13 Uhr ab: 70 Dezibel! Bei unserem oben zitierten Vergleich von Alltagsgeräuschen hatten wir exakt denselben Wert auf der Nähterstraße gemessen, als ein Auto unmittelbar am Messgerät* vorbeifuhr. Diese 70 Dezibel sind aber anders: Sie rauschen nicht vorüber, sie repräsentieren einen kurzen, heftigen Schlag. Zudem wirken 70 Dezibel – das Doppelte des Raumpegels ohne Meißeln – mitten in der Nacht in einer Wohnung lauter als mitten am Tag im Alltagstrubel auf der Straße. Siebte und letzte Erkenntnis dieser Nacht: Das ist richtig viel! Sogar noch deutlich mehr als die 46 Dezibel, über die ein Betroffener in einem Fernsehbeitrag berichtet hat. Und die ich bei meinen Messungen eher zu Beginn und Ende einer Meißelsequenz feststellen konnte. Meistens lagen meine Messwerte bei 50 Dezibel und mehr.

Fazit: Das Meißeln im Beate-Tunnel ist an der Nähterstraße mit bloßem Ohr gut wahrzunehmen, im Haus erscheint es deutlich lauter als draußen. Die Dezibel-Werte sind gegenüber der üblichen „Nachtruhe” stark erhöht. Die Spitzenwerte sogar sehr stark. Und: Das andauernde rhythmische Klopfen nervt.

Um 2.15 Uhr wurde der Selbstversuch beendet. Erfolgreich. In dem Sinne, dass ich die Kritik der Anwohner nun besser verstehe. Und jetzt ab ins Bett! Glücklicherweise steht es nicht über einer Tunnelbaustelle.

* Die Messungen wurden durchgeführt mit der Kelch-App auf einem Apple iPhone 5. Natürlich ohne Anspruch auf wissenschaftlichen Gehalt und nicht repräsentativ, gleichwohl untereinander sowie mit unseren Messungen von Alltagsgeräuschen (https://wilih.de/wie-laut-ist-laerm) vergleichbar.

Lesen Sie hierzu auch unseren Beitrag „Geduldsfaden wird immer dünner” im WILIH vom 11.11.2015 (Seite 3) – ab 10.11.2015 auf dieser Seite im ePaper Archiv.

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