Schulgeschichten – Einschulung mitten im Krieg

Lebendige Ortsgeschichte (Folge 24). Historisches aus und über Hedelfingen – unterhaltsam erklärt von Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer … Über Hedelfingen gibt es viel zu erzählen. Besonders gut und gerne tun dies der ehemalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und Hedelfingens Ortshistoriker Michael Wießmeyer. Seit Jahren begeistern die beiden Hedelfingen-Fans bei Vorträgen und Führungen ein stetig wachsendes Publikum mit ihren Geschichten über die Geschichte des vor gut hundert Jahren von Stuttgart eingemeindeten Neckarvororts. WILIH veröffentlicht hier eine Serie mit vielen interessanten Blicken auf die Historie Hedelfingens. In loser Folge wollen die Geschichten-über-Geschichte-Erzähler Seiler und Wießmeyer an dieser Stelle Lust auf Hedelfingen machen.

Thema dieser Folge: Schulgeschichten aus dem vorigen Jahrhundert (Folge 2) – Einschulung mitten im Krieg

Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer beim Stöbern in historischen Fotos
Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer beim Stöbern in historischen Dokumenten

Bei Schulgeschichten hat jeder etwas zu erzählen. Denn in die Schule gingen alle Kinder. Selbst im Erwachsenenalter gibt man seine Erlebnisse zum Besten. Deshalb wollen wir eine weitere Schulgeschichte erzählen.

Die heutige Geschichte handelt von der Schülerin Waltraud. 1937 geboren, begann sie ihre Schulzeit in Hedelfingen im September 1943. Es war Krieg und es gab keine Schultüte. Was hätte da man auch einfüllen können? Es gab ja nichts. Ein paar Kinder hatten aber doch eine Schultüte, was die Ausnahme war.

Schülerin mit Schultüte 1943
Eine der wenigen Schülerinnen 1943, die eine Schultüte hatten

Ein halbes Jahr war Waltraud noch in Hedelfingen wohnhaft; dann wurden sie und alle ihre Klassenkameraden und die gesamte Volksschule aus dem hoch gefährdeten Stuttgart „ausgelagert.“ Hedelfingen lag nahe beim Daimlerwerk. Die Alliierten nahmen „den Daimler” als Ziel, und Bomben wurden über dem Neckartal abgeworfen. Hatten Hedelfinger Einwohner Verwandte auf dem Land, wurden sie dort untergebracht. Die Schwester von Waltrauds Großvater lebte in Deizisau. Waltraud wurde deshalb nach Deizisau gebracht. Dort wohnte sie bei ihren Verwandten und dort ging sie auch zur Schule. Mitschüler ohne Verwandte auf dem Land mussten nach Jagsthausen oder Kirchberg zu wildfremden Menschen umziehen. Geschwister, sogar Zwillinge, wurden einfach getrennt.

Lonseer Straße nach einem Bombenangriff 1944
Die Lonseer Straße nach einem Bombenangriff 1944

Waltrauds Vater war im Krieg gestorben. Die alleinerziehende Mutter arbeitete bei der Firma Kodak. Es waren sehr schwere und heute nicht fassbare Zeiten. Waltraud fiel das Lernen sehr leicht. Sie hatte eine schnelle Auffassungsgabe. Heute würde man sie als Hochbegabte bezeichnen; was sie natürlich abstreiten würde. Im Schuljahr 1943 gab es noch das gemeinsame Vorlesen „dada – dede – efef“…. Das gefiel ihr gar nicht. Sie sagte dies ihrem Deizisauer Lehrer Herrn Haist: Sie könne es nicht; sie könne so nicht lesen. Dies wurde akzeptiert. Daheim brachte sie sich mit dem Buch „Heidi“ selber das Lesen bei. Sie las alles, was sie bekommen konnte. Die Mutter wurde bei einem Gespräch mit Lehrer Haist darauf aufmerksam gemacht, dass Waltraud gescheit sei. Sie habe aber leider beim Lesen noch ihre Schwierigkeiten. Eines Tages wurde dann doch festgestellt, dass sie sehr gut lesen konnte. Nach einem kurzen Test reagierte Haist völlig erschüttert: „Ja, warum hast Du nicht mitgelesen?“ „Das ist kein Lesen, sondern Gestottere“, antwortete sie.

Kurz vor dem Ende des Krieges holte der Großvater Waltraud wieder nach Hause. Die Bombardierungen waren mittlerweile überall, und er meinte: „Dann sind wir wenigstens alle zusammen.“ Schulunterricht fand am Ende des 2. Weltkrieges ab August 1944 in Stuttgart nicht mehr statt. 

Nach dem Krieg kam Waltraud dann wieder nach Hedelfingen. In der Volksschule am Hedelfinger Platz waren Zwangsarbeiter und ehemalige Kriegsgefangene aus Russland untergebracht. Deshalb mussten die Hedelfinger Schüler nach Obertürkheim zur Schule gehen. Das war gar nicht so einfach, denn die Obertürkheimer Brücke wurde in den letzten Kriegstagen vom Volkssturm gesprengt. Die Hedelfinger Schüler gingen über einen Behelfssteg auf die andere Seite des Neckars. In der Obertürkheimer Schule wurde in Schichten unterrichtet; oft zwei Klassen in einem Zimmer.

Erst 1946 begann der Unterricht in Hedelfingen wieder. Wer aber wo und in welcher Klasse war, war nicht mehr klar. So wurde bestimmt, dass Waltraud ab sofort in die 3. Klasse ging. So geschah es vielen Schülern.

In ihrer Klasse war auch Dieter Baisch. Ihm ist zu verdanken, dass er sich als Erwachsener mit seinem politischen Engagement für den Umzug der Schule vom Hedelfinger Platz zum Steinenberg eingesetzt hat und Gebhard Friesch Rektor der Steinenbergschule wurde. Er war ebenfalls Schulkamerad von Waltraud.

Viele Lehrer waren im Krieg gefallen oder verstorben. Flüchtlinge wurden als Hilfslehrer eingesetzt. Alte, pensionierte Lehrer wurden wieder zum Dienst gerufen. Lehrer, die vom Krieg kamen, aber in der nationalsozialistischen Partei waren, wurden nur als Volksschullehrer eingesetzt, nicht in weiterführenden Schulen.

Nach der 4. Klasse sind wenige in weiterführende Schulen gegangen. Dies war nicht nur eine Frage der Begabung, sondern auch des Geldes. Die Kriegerwitwe und Mutter der hochbegabten Waltraud war bei Kodak beschäftigt, und der Verdienst war äußerst knapp. Schulgeld und Geld für die Bücher sowie fünf Mark für die Straßenbahn waren nicht da. 

Abschlusszeugnis der Volksschule Hedelfingen
Waltrauds Abschlusszeugnis 1951

Die Schulzeit endete mit 14 Jahren, nach der 8. Klasse. Danach ging Waltraud ein Jahr in die private Handelsschule Zimmermann, um nach einem weiteren Jahr als „Anfangskontoristin“ zu arbeiten. In der Glasmalfabrik Beck war sie in jeder freien Minute und lernte in der Werkstatt, auf Glas zu malen. Das fiel auf und ihr wurde angetragen, als Lehrling den Beruf des Schildermalers zu lernen. Außer ihr war in der Berufsschule nur noch ein Mädchen. Prof. Hans Schlegel aus Obertürkheim war einer ihrer Lehrer.

Der weitere Lebensweg führte zur Heirat, und sie war berufstätig bis zum zweiten Kind. Danach war sie Hausfrau und Mutter, wie es zur damaligen Zeit üblich war. Waltraud aber arbeitete abends daheim am Küchentisch und gestaltete jahrzehntelang die „Meisterbriefe“ sämtlicher Handwerker.

Ihre autodidaktische Leistung als Künstlerin und ihr großes soziales Engagement sei nur so nebenbei erwähnt. Was Waltraud heute alles hätte werden können?! Zitieren wir sie zum Schluss: „Es war alles so recht, wie es war.“

Das Beitragsfoto oben zeigt die Abschlussklasse des Jahrgangs 1937 gemeinsam mit Lehrer Fischer im Jahr 1951 – mit Waltraud als Zweiter von links in der oberen Reihe.

WILIH dankt Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer für diese Geschichte. Die historischen Fotos und Dokumente stammen aus dem Fundus des Alten Hauses Hedelfingen.

Nächstes Thema dieser Serie: Hochwasser-Katastrophe vor 110 Jahren – Land unter in Hedelfingen und Rohracker


Den wöchentlichen WILIH-Newsletter kostenlos abonnieren und immer informiert sein! Einfach hier klicken und gleich anmelden, dann bekommen Sie einmal wöchentlich die Themen der Woche frei Haus! Abbestellung jederzeit möglich!


Drucken