Wie aus Brennholz ein Millionenvermögen wurde

Lebendige Ortsgeschichte (Folge 11). Historisches aus und über Hedelfingen – unterhaltsam erklärt von Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer, [post_published] … Über Hedelfingen gibt es viel zu erzählen. Besonders gut und gerne tun dies der ehemalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und Hedelfingens Ortshistoriker Michael Wießmeyer. Seit Jahren begeistern die beiden Hedelfingen-Fans bei Vorträgen und Führungen ein stetig wachsendes Publikum mit ihren Geschichten über die Geschichte des vor gut hundert Jahren von Stuttgart eingemeindeten Neckarvororts. WILIH veröffentlicht hier eine Serie mit vielen interessanten Blicken auf die Historie Hedelfingens. In loser Folge wollen die Geschichten-über-Geschichte-Erzähler Seiler und Wießmeyer an dieser Stelle Lust auf Hedelfingen machen.

Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer beim Stöbern in historischen Fotos
Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer beim Stöbern in historischen Dokumenten

Thema dieser Folge: Wie aus Brennholz ein Millionenvermögen wurde

Ein eifriger Kirchgänger, ein gläubiger Mann, war unser Hedelfinger. Aufgefallen ist er den anderen, als er in seiner Kirchenbank in der Alten Kirche immer den Hut aufzog und er vor sich hin „bruddelte“ (vor sich hin schimpfen, unzufrieden sein). Er wurde zurechtgewiesen, denn er saß unter der Pieta, einem großen Holzstandbild, das seine besten Jahre schon hinter sich hatte. Das Holzmehl, verursacht durch den Holzwurm, rieselte auf unseren Kirchgänger herunter, und er konnte vor lauter Ärger der Predigt nicht mehr folgen.

Die Pieta, auch Vesperbild oder Marienklage genannt, stellt Maria dar, und in ihren Armen liegt der vom Kreuz abgenommene Jesus Christus. Diese Skulptur ist 152 cm hoch und auch 152 cm breit. Die Tiefe beträgt 74 cm. Die Pieta ist schon durch ihre Größe ein beeindruckendes Andachtsbild. Es war an der Nordwand der Alten Kirche hoch oben unter der Decke angebracht. Das Bildwerk ist in Lebensgröße aus einem Stück Lindenholz geschnitzt worden. 

Durch das Dauerjammern des gläubigen Hedelfingers mürbe geworden, entschloss sich die Kirchengemeinde, unserem Kirchgänger ein Angebot zu machen: 20 Reichsmark solle er für das Standbild zahlen, um es daheim als Brennholz zu verheizen. Er müsse es aber selber abbauen. Also ging er zum Zimmermann Barth und bat ihn um ein Gerüst. Gerne, sagte dieser, es koste aber 20 Mark. Der Kirchgänger war erbost: Für 40 Mark könne er einen halben Wald bekommen.

Er verzichtete auf seinen Stammplatz.

Einige Jahre später wurde der Kirchengemeinde ihr unglaublicher Schatz bewusst. Es wurde festgestellt, dass die Pieta, vermutlich im Jahr 1471 erschaffen, aus dem Dominikanerinnenkloster Weil bei Esslingen stammt. Das Kloster Weil wurde 1592 zum herzoglichen Gut. Die Kirchengemeinde Hedelfingen bekam die Pieta und 19 neue Mitglieder vom Nachbarort Weil per Decretur 1772: “…..die durchaus evangelisch sind. Die Bewohner von Weil gehen nach Hedelfingen in die Kirche und ihre Kinder in die Schule daselbst. Auf dem Hedelfinger Gottesacker finden auch die Filialisten (Weiler) ihre Begräbnisstätte.“

1817 wurde die Domäne Weil von König Wilhelm I. von Württemberg zum königlichen Privatgestüt erklärt.

Rückseite der Alten Kirche Hedelfingen um 1928
Rückseite der Alten Kirche Hedelfingen um 1928

In der Alten Kirche wurde der Holzwurm in der Pieta zu einem großen Problem. Die Kirchengemeinde hatte kein Geld für die Restaurierung und Imprägnierung. 1919 wurde die Kirchengemeinde gefragt, ob Sie die Pieta an die Sammlung vaterländischer Altertümer verkaufen würde. Die Hedelfinger warteten ab, denn eigentlich wollten sie die Marienanbetung für die seit 150 Jahren geplante neue Kirche verwenden. Erst 1921 gaben sie dem Drängen nach und verkauften das Kunstwerk für 25.000 Mark. 

Das Landesmuseum Stuttgart hat die Pieta vorbildlich restauriert. Die Farbgebung ist gelungen. Heute wird angenommen, dass die Skulptur in Ulm hergestellt wurde, in der Werkstatt eines Nachfolgers von Hans Multscher.

1922 kam das kleine Büchlein „Die Pieta“ von W. Pinder heraus. 20 Darstellungen werden genannt, unter andern die von Michelangelo, Perugio und die Hedelfinger Pieta. Pinter schreibt: „… und mit verblüffender Mächtigkeit, in der simpel-gewaltigen Pieta aus Hedelfingen, Maria hier noch dem Spätstile Mutschlers in einigen Zügen nahe.“ 

Leider dankt uns das Landesmuseum Stuttgart unseren großzügigen Verkauf nicht. Jahrzehntelang war von der Hedelfinger Pieta die Rede. Mittlerweile ist nur noch von der Pieta aus dem Kloster Weil die Rede. 

Hätte unser Kirchengemeinderat aus dem Brennholz nicht noch Geld machen und der Zimmermann Barth dabei mitverdienen wollen, dann wäre eine der bedeutendsten Pietas der Welt in Rauch aufgegangen.

Zur 750-Jahr-Feier von Hedelfingen hatte Adolf Binder die Idee, die Pieta auszuleihen und für ein paar Tage in die Alte Kirche zu stellen. Das Landesmuseum antwortete auf seine Anfrage: Selbstverständlich könne er sie drei Tage ausleihen, allerdings müsse er einen 24-Stunden-Wachdienst organisieren, der zu Viert die Pieta bewacht, und eine Klimaanlage müsse eingebaut werden, und die Pieta müsse für 15 Millionen DM versichert werden. Die Idee war vom Tisch, da sie nicht bezahlbar war. So kann man auch Ja sagen.

Allerdings, im Pariser Louvre war sie als Leihgabe zu sehen, was ihre große Bedeutung noch mehr unterstreicht.

Aus Brennholz ist heute ein unbezahlbares Millionenvermögen geworden.

Herzlichen Dank sagen die Autoren an die evangelische Kirchengemeinde Hedelfingen und Erich Dalferth für ihre Unterstützung.

Das Beitragsbild oben zeigt die Pieta an der Nordwand der Alten Kirche Hedelfingen um 1910.

WILIH dankt Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer für diese Geschichte. Die historischen Fotos und Dokumente stammen aus dem Fundus des Alten Hauses Hedelfingen.

Nächstes Thema dieser Serie: Kleinod im Haufendorf – Was an Hedelfingens Alter Kirche so besonders ist


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