Bürgerbeteiligung Heumaden Süd – Was läuft schief?

Stuttgart-Heumaden, [post_published] … Vor einem Jahr wurde das „Entwicklungskonzept Heumaden Süd” offiziell auf den Weg gebracht. Es ist das wohl auf viele Jahre hinaus größte städtebauliche Projekt im WILIH-Land – mit komplexer Aufgabenstellung. Was aus dem riesigen Areal gemacht wird, kann den Charakter des Stadtbezirks Sillenbuch nachhaltig beeinflussen. Nach einem öffentlichen Auftakt im Freien haben zwei „Planungswerkstätten” stattgefunden, an denen insgesamt 66 Bürger teilnehmen durften. Eine Zwischenbilanz bereitet mehr Anlass zu Sorge als zu Hoffnung. Die Stadt forciert ihre eigenen Baupläne, beteiligte Bürger sind frustriert, der Streit um die Bernsteinweise flammt wieder auf, und im Stadtbezirk ist das Megavorhaben noch gar nicht richtig angekommen. Dabei beinhaltet es viele wichtige Zukunftsthemen. Was läuft da schief?

Eine Auftaktveranstaltung am 13. November 2021 zog trotz regnerischen Wetters zahlreiche Bürger nach Heumaden „Über der Straße”. In der damals ausgegebenen „Einladung zur Planungswerkstatt” war von dem Ziel die Rede, den südlichen Bereich von Heumaden mit den Gebieten Schwellenäcker, Über der Straße, Schwarzäcker und Untere Brücklesäcker näher zu untersuchen – und die Ergebnisse in ein städtebauliches Entwicklungskonzept münden zu lassen. Zielrichtung: ein „Handlungsrahmen für zukünftige Planungen, auch unter den Aspekten Landschaft und Verkehr”. So weit die inhaltlichen Komponenten. Außerdem wurde damals angekündigt: „Das Konzept wird mit umfassender Beteiligung der Öffentlichkeit erarbeitet” – die verfahrensbezogene Komponente des Projekts.

Wird das bisherige Procedere dem eigenen Anspruch gerecht?

An dem Verfahren sind drei Institutionen beteiligt: das Amt für Stadtplanung und Wohnen der Stadt Stuttgart, das von ihm beauftragte Internationale Stadtbauatelier sowie die mit der Moderation der Bürgerbeteilgung beauftragte Gesellschaft für intelligente Projektsteuerung (GRiPS).

Aus Bürgerideen bei der öffentlichen Auftaktveranstaltung am 13. November 2021 resultierte eine umfassende Stärken-Schwächen-Bilanz sowie ein weites Feld von Wünschen (Zusammenfassung: hier). Anschließend fanden zwei „Planungswerkstätten” im Geschwister-Scholl-Gymnasium statt. Dafür wurden drei Gruppen mit je 22 Teilnehmern gebildet. Die erste Gruppe bilden „Schlüsselakteure”, darunter die Sprecher der im Bezirksbeirat vertretenen Fraktionen, Vereins- und Kirchenvertreter. Für Gruppe Zwei wurden Bürger des Stadtteils zufällig ausgewählt. Und die dritte Gruppe umfasst zufällig ausgewählte Einzelpersonen, die sich für das Verfahren angemeldet hatten. Dieses Verfahren basiert auf dem Landesgesetz über die dialogische Bürgerbeteiligung. Begleitet wird das Projekt auf der städtischen Webseite „Stuttgart – meine Stadt”.

Beim ersten Treffen am 1. April wurde es bereits konkreter. Die Teilnehmer sollten sich insbesondere Gedanken zur Positionierung eines Pflegeheims, einer Kindertagesstätte sowie der Freien Aktiven Schule auf dafür geeigneten Grundstücken machen. Ein klares Bild ergab sich allerdings nicht. Die Ergebnisse sind im Internet nachzulesen (hier). Aus acht Gruppenarbeiten resultierten je sechs verschiedene Standortideen für Kita und Pflegewohnen sowie fünf für die Freie Aktive Schule. Noch weiter differieren Ideen für neue Wohnungen. „Aktives Brainstorming” – so die Vorgabe – in allen Ehren. Aber: Wo ist der rote Faden? Werden die Bürger ohne Ziel und Kompass auf die Reise geschickt und müssen sich später vorhalten lassen, sie hätten sich verirrt, ist der Frust groß.

Bereits am 10. April artikulierte die Bezirksbeirats-SPD ein Störgefühl. Sie startete einen Antrag, der darauf abzielte, allen Sillenbucher Bezirksbeiräten „zeitnah” die bereits eingesetzten und noch kommenden Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Außerdem regte sie an, Ungereimtheiten bei der Teilnehmerauswahl zu korrigieren und die Gruppenarbeiten professioneller zu moderieren. Schon damals spürten Bezirksbeiräte aufkommenden Bürgerfrust.

Am 23. Juli fand das zweite Treffen statt. Dabei sollte es um die Weiterentwicklung der Ergebnisse des ersten Treffens gehen. Wie weit bis dahin die vorgegebenen Neubauthemen (Pflegeheim, Kindertagesstätte, Freie Aktive Schule, Wohnungen) mit der anfänglichen Leitidee einer lebendigen Gartenstadt, in der man gerne wohnen mag, kontrastiert worden waren, drang nicht an die Öffentlichkeit. Ein Teilnehmer berichtet von vier Fokusbereichen, die das Gerüst für die zweite „Planungswerkstatt” geben sollten: „Bernsteinwiese aufwerten und Quartier am südlichen Rand“, „Schwarzäcker im Grünen“, „Adressbildung Kirchheimer Straße und Bernsteinstraße beleben“, „Mobilitätskarte und Heumaden Zentrum nördlicher Teil“. Ergebnisse waren bis zur Veröffentlichung dieses Beitrags noch nicht zu lesen. Sie werden auf der städtischen Beteiligungsseite zusammengefasst (hier).

Was will, was braucht eigentlich der Bezirk? Das Sillenbucher Bezirksamt hält sich in dem Verfahren bislang bedeckt, eigene Impulse waren und sind nicht erkennbar. Weder in der Sache noch zum Verfahren. Die Grünen haben sogar öffentlich kritisiert, dass der Sillenbucher Bezirksvorsteher nicht bei der Auftaktveranstaltung war (hier).

Bis jetzt ist nicht erkennbar, wie die vielschichtigen Bestandsnutzungen – Wohnen, Landwirtschaft, Handwerk, Hundesport, Schulwege, Asyldorf, Mobile Jugendarbeit, Ladenzentrum, Gastronomie, Verkehrsanbindung, Parkplätze, Naherholung, Treffpunkt, Spiel- und Zirkuswiese – mit neuen Ideen so in Einklang zu bringen sind, dass der Stadtteil Heumaden und mit ihm der Stadtbezirk Sillenbuch gewinnen kann.

Bringt ein erneuter Streit um die Bernsteinwiese die Stimmung zum Kippen?

Unmittelbar nach der zweiten „Planungswerkstatt” meldete sich die Anwohnerinitiative Bernsteinwiese zu Wort. Sie hatte sich 2019 erfolgreich gegen eine Bebauung des am Südostrand des Wohngebietes „Über der Straße” gelegenen Wiesengrundstücks gestemmt und beim damaligen Bürgerhaushalt mit der Forderung, die Bernsteinwiese (Foto oben) in ihrer bisherigen Form zu erhalten, stuttgartweit Platz 2 belegt. Danach war das Thema zur Ruhe gekommen, und kaum jemand hätte gedacht, dass dieses „Fass” noch einmal „aufgemacht” werden würde.

Doch am 23. Juli kam die Bebauung der Wiese mit einer Kindertagesstätte wieder auf die Agenda. Initiativensprecher Jochen Weller kritisiert, die Stadtverwaltung beharre weiterhin darauf, „dass eine Bebauung der Bernsteinwiese aufgrund des bestehenden Bebauungsplans schneller möglich wäre als an einer anderen Stelle”. Beispielsweise  entgegnet Weller – am unteren Ende des Schwarzäckerwegs, was das beteiligte Planungsbüro sogar vorgeschlagen habe. Die Stadt habe den beteiligten Bürgern ihren ursprünglichen Plan, ihre KiTa auf die obere Bernsteinweise zu bauen, unter dem Titel „Aufwertung der Bernsteinwiese” schmackhaft machen wollen, ärgert sich Weller. Dabei hätten sich bei der ersten „Planungswerkstatt” im April sechseinhalb von acht Planungsgruppen „für den Erhalt der Bernsteinwiese ausgesprochen” (siehe Bericht hier).

Aus Sicht von Jochen Weller ist das städtische Vorgehen nicht nur von der Sache her, sondern auch verfahrensmäßig kritikwürdig: „Wenn Bürgerbeteiligungsverfahren wie der Stuttgarter Bürgerhaushalt oder die Planungswerkstatt nicht zu reinen Alibiveranstaltungen werden sollen, muss das eindeutige Bürgervotum endlich beachtet werden”.

Die Stadt Stuttgart kontert auf Anfrage von WILIH, das Jugendamt habe „dringenden Bedarf an Kita-Plätzen für Heumaden gemeldet und nach einem möglichen Standort für eine kurzfristige Einrichtung angefragt”. Dies sei aktuell nur auf der Bernsteinwiese umsetzbar. Und: Die Wiese könne „überwiegend erhalten werden”. Es gebe aber „derzeit keine Vorfestlegung zur Bebauung der Bernsteinwiese”.

Allerdings appelliert die Stadt an die Bürger, das Thema mit ihr nochmals zu diskutieren. Hintergrund: Auf einen bestehenden Bebauungsplan für ein bereits im Eigentum der Stadt befindliches Grundstück zurückzugreifen ist einfacher, als einen Plan zu ändern oder gar ein neues Grundstück finden und erwerben zu müssen. Doch: Soll dieses Interesse Vorrang vor städtebaulichen Gesamtinteressen haben?

Welche Interessen gehen vor – wer soll zurückstehen?

Die Initialzündung für das Entwicklungskonzept gab im Jahr 2018 die Freie Aktive Schule. Sie müsse ihren Standort an der Hohen Eiche in Hoffeld zügig zugunsten von Sportstätten räumen, hieß es damals. Der seinerzeit empfundene Zeitdruck scheint sich über die Zeit verringert zu haben. Die Schule ist immer noch dort. Degerlochs Bezirksvorsteher Marco-Oliver Luz schätzte die Lage im Oktober 2021 – kurz vor dem offiziellen Stadt des Heumadener Bürgerbeteiligungsprozesses – entspannt ein: Er wüsste nicht, „was dagegen sprechen sollte, dass die Schule ihre Räumlichkeiten an der Hohen Eiche bis zum Umzug in die Neubauten in Sillenbuch nützen kann”. Den Sankt Nimmerleinstag dürfte er dabei allerdings nicht im Sinn gehabt haben.

Die Idee, die reformpädagogische Grundschule mit Werkrealschule nach Heumaden Süd umzusiedeln, ist unverändert vital. Das Interesse der Stadt Stuttgart konzentriert sich im Moment aber auf den Bau einer neuen KiTa – siehe oben. Dass am anderen Ende der Alterspyramide ebenfalls Plätze fehlen – nämlich für Seniorenwohnen und Altenpflege –, ist nicht bloß, aber auch im Stadtbezirk Sillenbuch ein Riesenthema. Und neue Wohnungen – am besten mit dem Etikett „bezahlbar” versehen – fehlen sowieso überall. Daher ist klar: Die vielen freien oder frei erscheinenden Grundstücke in Heumaden Süd wecken für solche Bauprojekte Begehrlichkeiten.

Allerdings gibt es auch Nutzungen, die Neubauplänen entgegenstehen könnten. Über deren Fortbestand oder mögliche Alternativen ist daher ebenfalls zu diskutieren. Insbesondere geht es um die landwirtschaftliche Fläche des Riedenberger Demeter-Bauernhofs Wais, den Lagerplatz dreier örtlicher Handwerksbetriebe, das Heumäder Asyldorf und das Trainings- und Wettbewerbsgelände der Hundesportfreunde Degerloch. Auch hierüber hat sich die Anwohnerinitiative Bernsteinwiese Gedanken gemacht. Nachzulesen sind sie auf ihrer Webseite (hier). 

Welche Aufgabe kommt jetzt auf den Sillenbucher Bezirksbeirat zu?

Der Sillenbucher Bezirksbeirat, so ein Stadtsprecher, soll – wie von Beginn an vorgesehen – „erst im Herbst 2022, sprich nach den zwei Planungswerkstätten” einen Zwischenbericht erhalten. Wann, ist noch nicht bekannt. Die Herbst-Sitzungen sind laut städtischem Kalender für den 28. September, 26. Oktober, 23. November und 14. Dezember terminiert.

Das Stadtbezirksparlament solle in der Bürgerbeteiligung „keinen Vorrang” haben und auch „keine Vorfestlegungen treffen”, begründet die Stadt ihren Zeitplan. Diesen Anspruch hat der Sillenbucher Bezirksbeirat allerdings nie erhoben. In der zunehmend verfahrenen Situation wird ihm aber womöglich schon bald die schwierige Rolle zukommen, das ganze Thema neu zu ordnen, eine ganzheitliche Betrachtung anzustoßen, die diesen Namen wirklich verdient, und eine Vielzahl widerstreitender Interessen unter einen Hut zu bringen. Vielleicht wird sogar eine neue und andere oder eine ergänzende Form des Bürgerdialogs notwendig werden. Denn: Nach einem Jahr ist man nicht wirklich schlauer als zuvor.

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Ein Gedanke zu „Bürgerbeteiligung Heumaden Süd – Was läuft schief?

  • Die Vorgehensweise der Verwaltung zeigt auch hier deutlich, dass solche Bürgerbeteiligungen reine Alibiveranstaltungen sind. Es wiederholt sich die Vorgehensweise wie in Stuttgart-Wangen, als es um die Gestaltung des Wangener Kelterplatzes ging. Der Bezirksbeirat hat seine Vorstellungen klar dargestellt, ob die Verwaltung darauf eingeht, wird sich zeigen, wenn die Landeshauptstadt ihre Vorstellungen, hoffentlich im Herbst, dem Bezirksbeirat vorstellt. Man kann gespannt sein.

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