Gegessen wird daheim – Wirtschaftskunde Teil 2
Lebendige Ortsgeschichte (Folge 32). Historisches aus und über Hedelfingen – unterhaltsam erklärt von Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer … Über Hedelfingen und Rohracker gibt es viel zu erzählen. Besonders gut und gerne tun dies der ehemalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und Hedelfingens Ortshistoriker Michael Wießmeyer. Seit Jahren begeistern die beiden Hedelfingen-Fans bei Vorträgen und Führungen ein stetig wachsendes Publikum mit ihren Geschichten über die Geschichte des vor gut hundert Jahren von Stuttgart eingemeindeten Neckarvororts. WILIH veröffentlicht hier eine Serie mit vielen interessanten Blicken auf die Historie Hedelfingens. In loser Folge wollen die Geschichten-über-Geschichte-Erzähler Seiler und Wießmeyer an dieser Stelle Lust auf Hedelfingen machen.
Thema dieser Folge: Gegessen wird daheim – Wofür die Hedelfinger so viele Wirtschaften brauchten (Folge 2)
Sie erinnern sich? Wir waren in der Traube und haben den Tag ausklingen lassen. Heute starten wir hier und gehen die Heumadener Straße weiter in Richtung Rohracker.

Nur ein paar Schritte gehen wir die Straße entlang und schon stoßen wir auf der linken Straßenseite auf das Gasthaus Rössle der Familie Bücheler. Es war über Jahrzehnte ein Traditionslokal der Hedelfinger. Hier gibt es nun gleich zwei Geschichten zu erzählen. Unsere Zeitzeugin Waltraud Bücheler erinnert sich, dass die Gäste früher auf ein Getränk ins Gasthaus gingen. Ein Bier, ein Glas Most oder ein Schoppen Wein wurden gerne getrunken. Gekocht wurde in den Gasthäusern schon, aber im Alltag relativ einfach. Es gab zum Beispiel eine Suppe mit dem im Hausgarten geernteten Gemüse. Meist wurde nur ein Gericht angeboten. Aber die Leute waren ziemlich arm und konnten sich ein Gasthausessen nicht leisten. Oft hat man sich ein preisgünstiges Vesper bestellt. Vielleicht eine Portion frische Schinkenwurst mit Brot oder ein paar Landjäger. Von der aktuellen Schlachtung wurden gerne ein Paar Leberwürste bestellt, die kosteten 10 Pfennig, eine Rote 12 Pfennig, ein Schoppen Most 10 Pfennig, ein Schoppen Wein 35 Pfennig.
Der Weg zur Arbeit wurde in der Regel zu Fuß zurückgelegt. Die Straßenbahnfahrscheine konnte man sich nicht leisten. Oft dauerte es eine Stunde, bis man im Geschäft ankam. Abends, auf dem Heimweg, sind manche regelmäßig eingekehrt und haben ihren Lohn, der täglich ausbezahlt wurde, „vertrunken“. Als dann der Taglöhner endlich nach Hause kam und wieder kein Geld heimbrachte, hing der Haussegen kräftig schief, denn die Familie konnte wieder nichts einkaufen und musste hungern. Deshalb wird erzählt, dass manche Frauen ihre Männer an der Arbeitsstelle abholten und es für den Mann keinen „Einkehrschwung“ gab. Somit war der Taglohn gerettet, und die Frau und manchmal viele Kinder konnten gerade so ernährt werden.
Die zweite Geschichte handelt vom Wirt und Gemeinderat und seiner Geheimschlächterei: „In der Eßlinger Zeitung wird unter dem 8. Juni 1918 berichtet, dass durch Kriminalbeamte gestern mittag bei Gemeinderat Bücheler zum Rössle eine Geheimschlächterei entdeckt und 12 schlachtreife Hammel vorgefunden wurden. Außerdem kamen einige Ballen Schafwolle im Gewicht von nahezu 10 Zentner zum Vorschein, die wohl gleichfalls aus verbotenen Schlachtungen stammen dürften. Die Hammel wurden hiesigen Metzgern zur Schlachtung überwiesen und kommen nun der Einwohnerschaft zugute.“ Dass es sich hier um strafbare Handlungen handelte, ist jedem klar. Gleichzeitig wirft es aber auch ein Licht auf die damalige Zeit im 1. Weltkrieg. Die Not und die Armut in Hedelfingen und anderswo waren groß und trieben die Menschen zum Äußersten.
Nach diesen beiden Geschichten gehen wir nachdenklich in Richtung Rohracker weiter. Kaum überqueren wir die Straßenkreuzung Heumadener Straße und gehen die Rohrackerstraße, damals noch Hedelfinger Straße genannt, entlang, sehen wir linker Hand das Gasthaus Urban. Heutzutage ist dort nicht mehr bewirtschaftet, und es war dort zuletzt eine Corona-Teststation während der Pandemie.

Wir marschieren gen Rohracker und entdecken bei der Einmündung des heutigen Alosenwegs das Gasthaus zum Schillerhaus. Es ist von einem Hausgarten umgeben und heute ein Wohnhaus. Wir wissen, dass nun „lange“ keine Wirtschaft mehr kommt und gehen lieber über das Fußgängerbrückle zur heutigen Krautgartenstraße, um dann auf die Straße Am Bergwald einzubiegen. Um 1912 war dort lediglich ein Feldweg, der zur Milchkuranstalt führte. Doch Halt! Ganz neu gebaut ist dort noch vor dem Dürrbach das Waldheim Hedelfingen mit seiner Vereinsgaststätte des 1912 gegründeten Vereins. Bewirtung damals nur für Mitglieder! Ob wir trotzdem was zu trinken bekommen?

Gestärkt gehen wir diesen Feldweg weiter in Richtung Rohracker, denn genau genommen war dies die Verbindungsstraße zwischen den beiden Orten und nicht die Straße, die wir heute kennen. Das damals nicht weiter bebaute Sträßchen führt uns durch das Wiesental entlang, bis die ersten Häuser in Sicht kommen.
Leider gab es damals noch nicht das Vereinsheim des Turnvereins Hedelfingen, in dem man seinen Durst hätte stillen können. Dort war lediglich eine Wiese und keine Dürrbachklause von SportKultur Stuttgart. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehen wir die Villa Sonneck von Leo Vetter. Damals absolut privat und keine Einkehrmöglichkeit. Heute befindet sich auf diesem Grundstück das Emma-Reichle-Heim mit einer Cafeteria im Erdgeschoss. Wir stärken uns bei Kaffee und Kuchen und treten den Rückweg in Richtung Hedelfinger Platz an. Nach Rohracker gehen wir beim nächsten Mal.
Am Hedelfinger Platz entdecken wir derzeit mehrere Bistros gegenüber der Stadtbahnhaltestelle, zum Beispiel „Endstation“, „Am Hedelfinger Platz“ und „Burger King“ auf dem Otto-Hirsch-Center-Areal. Vor vielen Jahren war der Vorgänger der Endstation eine „Eisdiele“. Gehen wir noch einmal rund 90 Jahre zurück, dann würden wir auf dem Gelände der früheren Autoverwertung Nill den „Turnvereinsplatz“ vorfinden. Natürlich mit Vereinsheim und Bewirtung. Und gingen wir zur damaligen Zeit in Richtung Wangen, hätten wir kurz vor „dem Kodak“, den früheren Nagel-Werken, gerade noch auf Hedelfinger Gemarkung, die Gaststätte „zur grünen Au“ gefunden. Ein beliebtes Ausflugslokal von und nach Wangen. Die andere Straßenseite gehört zur Gemarkung Wangen, und deshalb gehen wir auf die Gaststätten im Gewerbegebiet Kesselstraße nicht weiter ein. Ja gut! Sie haben Recht! McDonalds an den Heiligenwiesen gehört wieder zu Hedelfingen.

Der Vollständigkeit halber ist noch zu erwähnen, dass es auch im Stadtteil Lederberg eine Gaststätte gab, den „Kernenblick“. Er war lange auch Wahlraum, ebenso wie das Nebenzimmer im Rössle. In der 1. Folge haben wir die Gaststätte Schwanen an der Esslinger Straße ausgelassen, weil diese nicht an unserem Weg lag. Der aufmerksamen WILIH-Leserschaft ist dies sofort aufgefallen. Vielen Dank!
Nun könnten wir uns auch noch den Besenwirtschaften zuwenden. Es ist ihnen für heute zuviel „Wirtschaftskunde“? Das verstehen wir. Für heute machen wir Feierabend und nehmen Sie das nächste Mal mit nach Rohracker.
Das Beitragsfoto oben zeigt einen Blick auf das Gasthaus Rössle um 1960.
WILIH dankt Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer für diese Geschichte. Die historischen Fotos und Dokumente stammen aus dem Fundus des Alten Hauses Hedelfingen.
Nächstes Thema dieser Serie: Gegessen wird daheim (Folge 3)
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