Nein zu Flüchtlingssiedlung – aber Sorgen bleiben

Stuttgart-Hedelfingen, [post_published] … Gestern Abend (13.12.2022) sprach sich der Hedelfinger Bezirksbeirat gegen die von der Stadt Stuttgart geplante Flüchtlingssiedlung auf dem Sportgelände am Dürrbach aus, stimmte aber Modulbauten an der Amstetter Straße sowie dem grundsätzlichen von der Stadt vorgeschlagenen Procedere für die Schaffung zusätzlicher Flüchtlingsunterkünfte zu (WILIH-berichtete noch aus der Sitzung).

Vor gut fünfzig interessierten Bürgern im überfüllten Saal der neuen Kindertagesstätte Am Bergwald 19 konnten Bürgermeisterin Alexandra Sußmann sowie ihr Kollege Thomas Fuhrmann – aus dessen Haus der Vorschlag stammt – die Sorgen der Bürger nicht zerstreuen. Diese waren im Vorfeld sogar in einer Online-Petition zum Ausdruck gekommen, die wegen teils fremdenfeindlicher Kommentare jedoch vorzeitig beendet wurde. Morgen (15.12.2022) soll der Stuttgarter Gemeinderat nur noch über neue Flüchtlingsunterkünfte in Plieningen sowie an der Amstetter Straße in Hedelfingen entscheiden. Nach Aussage der Bürgermeister wird es sich dabei um eine erste Tranche handeln, der im kommenden Jahr weitere folgen sollen. Die Standortsuche geht also weiter.

Großes Interesse an Bezirksbeiratssitzung

Selten verlieren sich Bürger in Bezirksbeiratssitzungen. Dasselbe gilt für Bürgermeister. Am Abend des 13. Dezember war das anders. Der Saal der neuen Kita – eigentlich zu Ehren der Inbetriebnahme des vom Waldheimverein Hedelfingen errichteten Gebäudes bewusst als Tagungsort ausgewählt, als noch niemand die Tagesordnung kannte – hatte gleich seine Feuertaufe zu bestehen. Der großzügig bemessene Versammlungsraum war brechend voll. Auch im Vorraum standen noch Bürger. Zwei Polizeibeamte beäugten das Geschehen. Und vor dem Eingang wartete ein Fernsehteam des SWR.

Grund für den ungewöhnlichen Auftrieb war die Gemeinderatsdrucksache mit der Nummer 797 des Jahres 2022. Überschrift: Errichtung von Flüchtlingsunterkünften in Modulbauweise – eine in Plieningen und zwei in Hedelfingen. Sie war erst am 7. Dezember fertig geworden und erweckt den Eindruck, mit heißer Nadel gestrickt worden zu sein (WILIH berichtete hier). Dass für den Stadtbezirk Hedelfingen gleich zwei Standorte vorgesehen wurden, stieß bei vielen vor Ort auf Unverständnis.

Insbesondere die vorgesehene Umwandlung des von der SportKultur Stuttgart genutzten Sportgeländes an der Rohrackerstraße 171 rief Kritik hervor. Tenor: Die Sport- und Spielflächen sind vor allem für Familien mit Kindern aus Rohracker und Hedelfingen von großem Wert. Hinzu kommt, dass angesichts eines über Jahre drohenden Engpasses bei Sporthallen auf dem Gelände eine Kaltlufthalle (auch „Frischlufthalle” genannt) errichtet werden soll. Dies hatte die Stadt in ihrem Plan ignoriert.

Bezirksbeirat Hedelfingen ist sich einig – Familienunterbringung an der Amstetter Straße

Der Bezirksbeirat kritisierte nicht nur die Standortpläne, sondern vor allem die Vorgehensweise der Stadtverwaltung heftig. Er bitte darum, „künftig früher unterrichtet und bereits bei der Standortsuche einbezogen zu werden”, lautet eine Vorbemerkung zu dem am 13. Dezember von allen Fraktionen gemeinsam gestellten Antrag. Darin bekennen sich die Beiräte zur dringend benötigten Schaffung von Wohnraum für Flüchtlinge, bestehen aber darauf, dass dabei „Nachhaltigkeit und Belange der Bürgerschaft besondere Berücksichtigung finden”.

Dem vorgesehenen Standort an der Amstetter Straße – zwischen Spielplatz und Elektro Eifler – stimmt der Bezirksbeirat Hedelfingen zu. Schon vor sechseinhalb Jahren gab er grünes Licht für seinerzeit geplante Flüchtlingsunterkünfte in anderer Bauweise; diese wurden wegen zurückgegangener Flüchtlingszahlen aber nie realisiert. Die jetzt vorgesehenen Modulbauten halten die Bezirksbeiräte für „besonders geeignet für die Unterbringung von Familien”. Die Lage neben einem Spielplatz spreche ebenfalls für Familien.

Standort Rohrackerstraße ungeeignet – Vorrang für Schul- und Vereinssport

Auf der Sportanlage an der Rohrackerstraße 171 solle eine Kaltlufthalle errichtet werden, untermauern die Bezirksbeiräte ihren Antrag vom 15. Februar dieses Jahres, den sie am 27. September noch einmal bekräftigt und erneuert hatten. Für eine solche Halle „im Stadtbezirk” habe der Stuttgarter Gemeinderat 600.000 Euro bereitgestellt, erinnern die Stadtbezirksparlamentarier. Grund: 2024 wird die Turn- und Versammlungshalle in Hedelfingen abgerissen und neu gebaut, 2025 wird die Halle an der Tiefenbachschule in Rohracker saniert –  für Jahre droht in Hedelfingen und Rohracker ein Defizit an überdachten Sportmöglichkeiten. Deshalb die Kaltlufthalle! Der Hedelfinger Bezirksbeirat kritisiert, dass die Stadt noch nicht auf seine Anträge geantwortet, geschweige denn ein Konzept vorgelegt hat.

Außerdem weisen die Bezirksbeiräte in ihrem gemeinsamen Antrag darauf hin, dass der vorgeschlagene Standort an der Rohrackerstraße „in einem Überschwemmungsgebiet liegt und somit für Wohnbebauung ungeeignet ist”. Ortskenner wissen: Dort läuft bei Starkregen das Wasser aus Bußbach, Tiefenbach und Dürrbach zusammen. Das eingemauerte Areal droht dann wie ein Bassin vollzulaufen. Für Wohncontainer ohne Fundament könnte zeitweiliges Hochwasser eine echte Gefahr darstellen.

Die Stadtverwaltung wird deshalb vom Hedelfinger Bezirksbeirat um Prüfung „weiterer möglicher Standorte” gebeten. Das Gremium unterbreitet hierfür auch gleich Vorschläge: das städtische Grundstück der Turn- und Versammlungshalle nebst Festwiese an der Hedelfinger Straße sowie an der gegenüberliegenden Straßenseite das Nill-Areal (Hedelfingen). Dessen Eigentümer habe bereits Gesprächsbereitschaft signalisiert, heißt es.

Interessenkollision am Frauenkopf?

Außerdem bringen die Lokalpolitiker die Sportanlage am Speidelweg 130 (Frauenkopf) ins Gespräch. Sie ist allerdings zur Zeit Gegenstand von Verhandlungen, wie der Bezirksbeirat erst im weiteren Verlauf der Sitzung von Vertretern des städtischen Sportamts erfuhr.

Das Grundstück gehöre dem Land Baden-Württemberg und sei an die Stadt Stuttgart vermietet. Diese habe das Gelände an die SportKultur Stuttgart untervermietet. Das Vereinsgebäude, errichtet auf einem Erbbaugrundstück, gehöre dem Verein, hieß es. Dieser bemühe sich zur Zeit, mangels Nutzungsmöglichkeiten seinen Fußballplatz abzugeben und das Vereinsheim zu veräußern. Mit einem seit 50 Jahren in Stuttgart aktiven Verein werde bereits ernsthaft verhandelt. Öffentlich könne darüber aber jetzt noch nicht mehr gesagt werden, baten die Sportamtsvertreter um Verständnis. Nur so viel: Es sei ein „guter Geist” zu erwarten, ein Verein, der sich aktiv einbringe. Womöglich wisse man bis zur Januarsitzung des Hedelfinger Bezirksbeirates bereits mehr.

Somit könnte diese vom Bezirksbeirat ins Spiel gebrachte Idee schon in Kürze zu den Akten zu legen sein.

Bürgermeister warben vergeblich – Vertrauen der Bürger hält sich in Grenzen

Zuvor durften sich interessierte Bürger zu dem städtischen Vorhaben äußern. Hedelfingens Bezirksvorsteher Kai Freier ließ allen Wortmeldungen und Fragen gebührend Raum und moderierte die Sitzung straff, aber herzlich. So erläuterte die Online-Petentin Anna Gallo, dass sie ihre Petition zum Schutz ihrer Person vor fremdenfeindlichen Kommentaren zurückgezogen habe. Ihre Kritik habe nicht Flüchtlingsunterkünften an sich gegolten, im Gegenteil. Sie halte aber den Standort an der Rohrackerstraße für ungeeignet. Eine andere Bürgerin bezeichnete Hedelfingen und Rohracker als „multikulturelle, offene Gemeinde”, die es nicht verdient habe, in die falsche Ecke gestellt zu werden. Aber dass Eltern bewährte Spielmöglichkeiten für ihre Kinder nicht verlieren wollten, sei auch zu respektieren. Weitere Bürger äußerten sich ähnlich. Nicht eine Wortmeldung verteidigte den Standortvorschlag Rohrackerstraße.

Alexandra Sußmann skizzierte anschließend die „Ausnahmesituation”, in der sich Stuttgart angesichts des Flüchtlingsstroms vor allem aus der Ukraine befinde. Aber auch aus Syrien, Irak und Afghanistan bekäme die Landeshauptstadt Zuweisungen. Die Sozialbürgermeisterin beschrieb die Rolle und Aufgabe der Stadt: humanitäre Verantwortung zur Unterbringung, egal woher die Menschen kommen. Sußmann gab zu: Momentan kommen mehr Zuweisungen aus anderen Ländern als der Ukraine. Denkverbote seien deshalb aber nicht zuzulassen. „Alle haben den gleichen Anspruch, in dieser Stadt zu sein, und alle werden untergebracht.”

Aber man werde das Gefüge im Blick behalten, versprach sie. Ebenso wie gute Betreuung. Man halte am „Stuttgarter Weg” der dezentralen Verteilung von Geflüchteten auf die Stadtteile fest. Der Unterbringungsdruck sei hoch. Auch für 2023 sei mit weiteren 4.000 Menschen zu rechnen, die in Stuttgart aufzunehmen sind. Sußmanns Bitte um Verständnis und Vertrauen quittierte das Publikum mit Gelächter und Protestrufen.

Thomas Fuhrmann erinnerte an 2015. Der heutige Wirtschafts- und Finanzbürgermeister saß bei der damaligen Flüchtlingswelle noch für die CDU im Stuttgarter Gemeinderat. Aus dieser Zeit kenne er die Argumente pro und contra Flüchtlingsunterkünfte sehr gut. Eine Hotelunterbringung sei aber keine Dauerlösung, warb er für die nun startende nächste Phase der Unterbringung. Zur Verfügung habe die Stadt verschiedene Stellschrauben: Verlängerung der Standzeit von Systembauten, Containerstandorte, Anmietung von Boardinghäusern. Die Stadt habe auch ein Messehotel angemietet und viele Wohnungsangebote geprüft. Neu ins Spiel kämen nun Module mit einer Lebensdauer von 30-40 Jahren. Fuhrmann: „Der Prozess startet jetzt.” Er warb für „kleine Einheiten” – für Hedelfingen vorgeschlagen  sind Ensembles für maximal 76 Personen.

Zufrieden waren die Bürger mit den Erläuterungen der Rathausspitze nicht. Die beiden Bürgermeister verließen nach der Abstimmung den Saal bei kurzzeitigem Tumult. Protestrufe begleiteten sie auf ihren Heimweg. Vielleicht gibt ihnen das für weitere Planungen zu denken.

Der komplette Antrag des Bezirksbeirats Hedelfingen als PDF (eine A4-Seite) findet sich hier.

Foto oben: Hedelfingens Bezirksvorsteher Kai Freier (stehend) leitete die Sitzung, rechts neben ihm Alexandra Sußmann und Thomas Fuhrmann.


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