Der Bürgersaal im Hedelfinger Rathaus
Lebendige Ortsgeschichte (Folge 19). Historisches aus und über Hedelfingen – unterhaltsam erklärt von Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer … Über Hedelfingen gibt es viel zu erzählen. Besonders gut und gerne tun dies der ehemalige Hedelfinger Bezirksvorsteher Hans-Peter Seiler und Hedelfingens Ortshistoriker Michael Wießmeyer. Seit Jahren begeistern die beiden Hedelfingen-Fans bei Vorträgen und Führungen ein stetig wachsendes Publikum mit ihren Geschichten über die Geschichte des vor gut hundert Jahren von Stuttgart eingemeindeten Neckarvororts. WILIH veröffentlicht hier eine Serie mit vielen interessanten Blicken auf die Historie Hedelfingens. In loser Folge wollen die Geschichten-über-Geschichte-Erzähler Seiler und Wießmeyer an dieser Stelle Lust auf Hedelfingen machen.
Thema dieser Folge: Der Bürgersaal im Hedelfinger Rathaus
Wir erinnern uns an die Rathauseinweihung im Jahre 1910, als das stattliche Dienstgebäude, erbaut von Architekt Hornung aus Esslingen, in Betrieb genommen wurde. Das Rathaus der selbständigen Gemeinde Hedelfingen wurde an der Ecke Mittelstraße, der heutigen Heumadener Straße, und Esslinger Straße, der heutigen Amstetter Straße, anstelle des alten Rathauses, das mitten auf der Kreuzung stand, erstellt.
Das repräsentative Gebäude beherbergte die Büros für den Schultheiß, wie der Bürgermeister damals genannt wurde. Im Erdgeschoss befand sich die Polizeiwache, die 24 Stunden am Tag besetzt war. Es gab zwei Haftzellen sowie Garagen für die Feuerwehrutensilien. Ebenfalls im Erdgeschoss befand sich das Zimmer des Waagemeisters, der die Waage vor dem Rathaus bediente, mit der man das Gewicht von Fahrzeugen oder deren Beladung feststellen konnte. Auch das Büro des Amtsboten beziehungsweise Büttels fand hier noch Platz. Im ersten Obergeschoss befanden sich die Diensträume des Bürgermeisters und seiner Kanzleiangestellten, die städtische Spar- und Girokasse, ein Raum des Arbeitsamtes und der Stadtkasse sowie die polizeiliche Meldestelle und auch ein repräsentativer Raum mit Kassettendecke – für Eheschließungen und festliche Versammlungen. Im zweiten Obergeschoss gab es Dienstzimmer des Revierführers der Polizei, eine kleine Wohnung sowie den Bürgersaal. Um den geht es heute.
Architekt Hornung hat den Bürgersaal großzügig, fast über die gesamte Hausbreite, konzipiert. Der Eingang vom Treppenhaus aus wurde mit einer Doppelflügeltür ausgestattet. Der Türrahmen ist mit einer eindrucksvollen Ornamentik hervorgehoben und geleitet den Besucher in den großen Raum.
Innen fällt die Fensterfront ins Auge, die den Raum hell und freundlich erscheinen lässt. Einbauschränke an der Stirnseite und an der Rückseite bieten Platz für Material, das für Versammlungen gebraucht wird. Verschiedene Deckenhöhen geben dem Raum eine angenehme Atmosphäre. Dazu tragen auch Holzsäulen bei, die mit einfachen Schnitzarbeiten geradlinige Ornamente zeigen. An der Decke sind Trägerbalken sichtbar. Die Lackierung des Holzes unterstreicht die Bedeutung des Raumes.
Die Nutzung dieses Bürgersaales nach der Rathauseinweihung 1910 bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges liegt weitgehend im Dunkeln. Dokumente liegen uns nicht vor. Nach dem Ende des Krieges wurde ab 1948 die Bezirksverwaltung im Rathaus eingerichtet. Alte Pläne zeigen, dass sehr bald an den Umbau des Bürgersaales gedacht wurde und Zwischenwände eingezogen wurden, um mehr Diensträume zu erhalten.
Nach dem Umbau entstanden anstelle des Bürgersaales drei unterschiedlich große Räume. Der Raum nach der Eingangstür wurde als Wartezimmer genutzt. Der zweite Raum, etwa halb so groß wie der ursprüngliche Bürgersaal, war ein Untersuchungsraum, und der dritte Raum, von beiden anderen Räumen zugänglich und etwa ein Drittel des Bürgersaales groß, war das Arztzimmer. Sie erinnern sich? Es war eine Außenstelle des Gesundheitsamtes eingerichtet worden. Hier fanden Impfungen statt, Einschulungsuntersuchungen, der Schulzahnarzt hatte hier seine Sprechstunde, und die wiederkehrenden Schuluntersuchungen wurden hier durchgeführt. Es war an den jeweiligen Tagen reges Treiben im Bezirksrathaus. Schulklassenweise kamen die Kinder mit ihren Lehrerinnen und Lehrern ins Haus.
Die Außenstellen des Gesundheitsamtes wurden in den 1970er Jahren aufgegeben, und das Bezirksamt hat die Möglichkeit genutzt, die viel zu engen Verhältnisse im ersten Obergeschoss zu beenden und die Räumlichkeiten für die stellvertretende Bezirksvorsteherin und die Sozialhilfedienststelle zu nutzen. Standesamt und Rentenstelle verblieben im ersten Obergeschoss.
Die Gründung des JobCenters Stuttgart, das in jedem Stadtbezirk eine Geschäftsstelle installierte, ließ die Mitarbeiter(innen) wieder einmal zusammenrücken. Die drei Räume des früheren Gesundheitsamtes wurden dem JobCenter überlassen. Vier Sachbearbeiterinnen konnten im zweiten Obergeschoss ihre Arbeit aufnehmen.
Von der Sozialhilfedienststelle verblieb noch die Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung beim Bezirksamt, und die Mitarbeiterin sowie die stellvertretende Bezirksvorsteherin zogen wieder in das erste Obergeschoss zurück.
Das Bezirksrathaus wurde in den Jahren 2021 und 2022 gründlich renoviert, ein Aufzug wurde eingebaut, und der Bürgersaal wird zu neuem Leben erweckt. Die Arbeiten für den Bürgersaal wurden 2022 begonnen, ein zweites Treppenhaus wurde als Notausgang eingebaut, eine Ausschank-Küche installiert, und alles wurde im Jahr 2023 eingeweiht und konnte am Knausbirasonntag, 8. Oktober 2023, besichtigt werden.
WILIH dankt Hans-Peter Seiler und Michael Wießmeyer für diese Geschichte. Die historischen Fotos und Dokumente stammen aus dem Fundus des Alten Hauses Hedelfingen.
Nächstes Thema dieser Serie: Zwischen den Fronten – wie oft Hedelfingen umkämpft war